Stand: 28.11.2024 21:45 Uhr

Frauen schlagen als Volksfest (Manuskript)

Anmoderation Anja Reschke: "In drei Tagen ist der erste Advent, dann kommt schon der Nikolaus und das Christkind oder der Weihnachtsmann. Es sind die Tage des Brauchtums. All die Traditionen, die man ja liebt, mit denen man aufgewachsen ist, die tief in unserer Gesellschaft verankert sind. Die auch wichtig sind, weil sie Identität und Gemeinsamkeit stiften. Und die, weil sie ja meist aus der fernen Vergangenheit stammen, auch immer ein Gefühl von einer guten alten Zeit mit sich bringen. Das Problem ist nur: Früher war gar nicht alles gut, im Gegenteil, es ging mitunter ziemlich brutal zu. Und auch solche Bräuche pflegen wir bis heute. Das, was sich zum Beispiel jedes Jahr in der Nikolausnacht von 5. Auf 6. Dezember auf der Insel Borkum abspielt, zeugt eher von einer ziemlich problematischen Tradition. Und es scheint, als wüssten die Borkumer das auch. Denn sie halten ihren Brauch hoch geheim. Gunnar Krupp. Simon Hoyme und Lorenz Jeric"

Malerisches Borkum. Die Nordseeinsel ist bekannt als Urlaubsparadies. Doch hier gibt es einen Brauch, von dem niemand erfahren soll.  Berichterstattung unerwünscht - nur selten trauen sich Reporter zum Fest - wie hier vor mehr als 30 Jahren. Beim jährlichen Klaasohm-Fest Anfang Dezember gehen kostümierte Männer angeblich auf die Jagd nach Frauen und schlagen sie. Das soll nicht gefilmt werden (Quellen: NDR, Hallo Niedersachsen, 07.12.1987, Tagesthemen, 06.12.1990)

Archiv Hallo Niedersachsen:
"Moin, NDR Fernsehen, dürfen wir reinkommen?"
"Nein, Weg hier man, raus hier man, keine Diskussion, ihr haut ab hier!" (Quelle: NDR, Hallo Niedersachsen, 07.12.1987)

Stattdessen wird dann wird die Reporterin geprügelt:

"So geht man dabei mit der Reporterin um. Die Männer treiben es auf der Kippe zwischen Spaß und Aggression." (Quelle: Tagesthemen, 06.12.1990)

Werden auf Borkum noch heute Frauen geschlagen? Wir besuchen die Insel zu Klaasohm am 05. Dezember 2023. Berichterstattung ist bis heute unerwünscht, wie Posts in den Sozialen Medien zeigen.

Facebook Post: "Der Klaasohm mag das nicht"

"Damit Klaasohm den Borkumern als höchster Feiertag und identitätsstiftendes Fest auch erhalten bleibt, muss der Bekanntheitsgrad gering gehalten werden. (....) Bitte erweise deinen Respekt und verbreite nichts."    (Quelle: Facebook, Künstlerklause, 03.12.2019)

 Klaasohm wird hier schon seit vielen Jahren gefeiert, der genaue Ursprung ist nicht zweifelsfrei zu recherchieren. Veranstaltet wird das Fest vom Verein Borkumer Jungens. Aus ihren Reihen werden zum Fest sechs sogenannte Klaasohms bestimmt. Die Klaasohms sind als Fabelwesen verkleidet. Nachmittags, noch feiert die Truppe friedlich. Auch mit Frauen und Kindern. Auch das gehört zum Klaasohm-Fest. Doch dann beginnt der Teil des Brauchs, der wohl nicht nach draußen dringen soll.

Die Frauenjagd. Ab 18 Uhr etwa ziehen die Klaasohms, begleitet von den "Fängern" - durch die Straßen. Immer auf der Suche nach jungen Frauen. Sie kehren in Häuser ein. Alkohol fließt. Viele Frauen von denen machen offenbar freiwillig mit, haben Spaß. Diese Frau wird von einem Fänger gehalten.  Sie wartet auf die Ankunft der Klaasohms. Und dann wird sie dem Klaasohm hingehalten und bekommt Schläge mit dem Kuhhorn. Umstehende Männer aber auch Frauen grölen. Doch es gibt Borkumerinnen, die keine so guten Erinnerungen an das Fest, an die Schläge haben.

Allerdings haben sie Angst vor Konsequenzen, wenn sie das verordnete Schweigen zu brechen. Daher berichten sie uns anonym.

O-Töne:
K.: "Man steht halt im Mittelpunkt, das ganze Publikum steht drumherum, die machen sich alle lustig drüber… und es ist beklemmend, beschämend, erdrückend."

N.: "Da fühlst du dich natürlich ängstlich, ich meine du weißt ja, das wird gleich hammermäßig weh tun. Ich hatte vom Steißbein bis ungefähr die Hinterseite vom Unterschenkel bis dahin dann alles voller Hämatome und blauer Flecken."

K.: "Ich hatte zu dem Zeitpunkt einfach mega Schmerzen und hab richtig geweint."   

Einige Frauen machen freiwillig mit, aber offenbar nicht alle.

O-Ton N.: "Ich müsste so 16, 17 Jahre alt gewesen sein. Da bin ich dann nach Hause gelaufen. Auf einmal fuhr ein Transporter an mir vorbei, ist stehengeblieben. Drei mir bekannte Jungs sind aus dem Auto gesprungen, äh, haben mich gepackt an Händen und Füßen und wollten mich in dieses Auto reinzerren. Ich habe dann versucht, mich mit Händen und Füßen zu wehren."          

Wir können nicht alle Aussagen im Detail überprüfen. Aber was wir überprüfen können, bestätigt die Aussagen. Und auch die Aussage eines ehemaligen Klaasohms, der inzwischen bereut, mitgemacht und den Mund gehalten zu haben.

O-Ton Ex-Klaasohm: "Hier besteht einfach ein Gruppenzwang. Der viele Frauen und auch viele Männer, die gegen das Fest sind, zwingen zu schweigen. Man kann nicht festgehalten werden und sagen 'Ich bin nicht von hier, ich will damit nichts zu tun haben. Ich möchte nicht geschlagen werden.' Das ist völlig irrelevant. Das, das ist - es ist Zwang. Man hat da keine Wahl. In dem Moment. Die nächsten Tage, wenn man die Mädchen wieder gesehen hat, war man stolz, wenn sie da über die Gegend gehumpelt, sind. Das ist dann ... wenn der Hintern grün und blau ist, was ja durchaus passiert und die Mädels dann durchaus 3, 4, 5, 6 Tage nicht richtig sitzen können. Ist man darauf stolz."

Wir fragen nach bei der Polizei, den Borkumer Jungens und auch beim Bürgermeister. Der Bürgermeister schreibt uns stattdessen: "Es handle sich um ein traditionelles Fest, welches sich wie viele regionale Traditionen den Auswärtigen nicht ohne weiteres erschließt. Daher wird es nicht beworben und wir unterstützen die Erwähnung in den Medien nicht." Weiterhin schreibt er, dass kritische Stimmen sehr wohl auf der Insel Gehör fänden. Und das die allermeisten Borkumerinnen und Borkumer das Fest unterstützen würden. Wir wollen selbst mit den Borkumern ins Gespräch kommen. Was sagen sie zu dem Brauch?

Straßenumfrage
Mann:
"Das ist nicht wirklich gewalttätig, so nicht. Das wird oft kritisch hinterfragt, so im Sinne von frauenfeindlich oder so. Die Insulaner glaube ich, haben da weniger ein Problem mit, als Leute von auswärts."

Frau: "Ich hab auch Schläge gekriegt. Die versuchen ja die Mädchen, wenn sie die Jung sehen, zu fassen."

Panorama: "Sie sind da nicht so ein Fan von?"

Frau: "Nein, nein nein. Noch nie."

Panorama: "Kann man sich dagegen überhaupt wehren?"

Frau: "Eigentlich nicht, eigentlich nicht. Das beanspruchen die für sich, ääh, ist eben ein Männerfest, ja."

Da die offiziellen Stellen auf Borkum nicht mit uns sprechen, fragen wir bei der Landesregierung in Hannover nach. Wir zeigen unsere Aufnahmen.

O-Ton Dr. Christine Arbogast, Niedersachsen, Staatssekretärin f. Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung: "Das geht einfach nicht. Man kann nicht aus Spaß andere Menschen blau schlagen. Also ich finde es extrem schwierig, wenn Frauen, egal an welchem Tag im Jahr das Gefühl haben, sie können sich nicht frei draußen bewegen. Das ist eigentlich etwas, was nicht sein darf. Und die Borkumerinnen und Borkumer wären meines Erachtens in der Verantwortung, auch mal drüber zu diskutieren und nachzudenken, ob das heute in der Form noch zeitgemäß ist."

Um darüber zu diskutieren, müsste zunächst das Redeverbot auf Borkum aufgehoben werden. Dann würden sich betroffene Frauen vielleicht auch offen äußern. Und dann läge die Verantwortung endlich bei denen, die schlagen, und nicht mehr bei denen, die darüber reden wollen. 

Bericht: Gunnar Krupp, Simon Hoyme, Kim Eckert, Lorenz Jeric, Betül Sarikaya
Kamera: Gunnar Krupp, Simon Hoyme, Nadja Hübner, Sulaiman Tadmory, David Diwiak
Schnitt: Alexander Meyering

Abmoderation Anja Reschke: "Man kann das als Inselposse abtun. Als, "ach das ist doch nicht so ernst gemeint, das ist halt so ein Brauch". Aber ist: "Frauen verhauen" – eine Tradition, die man pflegen sollte? Angesichts der Tatsache, dass alle drei Minuten eine Frau in Deutschland Opfer von männlicher Gewalt wird und wir das bislang einfach hinnehmen, sagt es wohl mehr über den Zustand unsere Gesellschaft aus, als uns lieb ist. Eine lange Fassung der Reportage aus Borkum von den Kollegen von Strg_F finden Sie auf panorama.de."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 28.11.2024 | 21:45 Uhr

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