Israel und Gaza: Leben zwischen Terror und Krieg
Manuskript des Panorama-Beitrags vom 16.11.2023
Anmoderation Anja Reschke: "Herzlich Willkommen zu Panorama. 6. Woche nach den Terroranschlägen auf Israel. 6. Woche Raketenfeuer der Hamas auf Israel. 6. Woche der Bombardierungen des israelischen Militärs auf Gaza. Der Krieg in Israel ist in der deutschen Öffentlichkeit ein Politikum. Sagt man, das israelische Militär bombardiert ein Krankenhaus in Gaza oder sagt man: das israelische Militär bombardiert ein Krankenhaus in Gaza, unter dem sich die Hamas verschanzt haben soll. In deutschen Städten werden die Gesichter der israelischen Geiseln oben auf Häuser projiziert, unten auf der Straße demonstrieren Menschen gegen die israelischen Angriffe auf Gaza. Und schuld und schlimm werden gleichgesetzt. Jede Seite wirft der anderen vor, brutaler zu sein. Es werden Tote und Grausamkeiten aufgerechnet. Das ist entsetzlich. Denn am Ende geht es um Menschen. Es ist auch die 6. Woche für die Deutschen Yarden und Abed, die beide unschuldig in Terror und Krieg hinein gezogen wurden. Die eine in Israel, der andere in Gaza."
Diese Bilder sind nur schwer zu ertragen. Hamas-Terroristen ermorden 1200 Menschen, nehmen Hunderte als Geisel. Eine davon: Yarden Roman.
"Es sind vier Terroristen hinter meiner Schwester hergerannt. Sie hielt in diesem Moment noch ihr kleines Kind im Arm."
Was folgt, löst Entsetzen aus: Massive Angriffe auf Gaza durch die israelische Regierung. Mehr als Zehntausend Tote.
Selfie-Video: "Es gibt nur Raketen von oben."
Dies ist die Geschichte von zwei Menschen.
"Ich weiß nicht, was ich euch noch sagen soll" (Rakete schlägt ein).
Zwei deutsche Staatsbürger. Die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Chronologie zweier Schicksale.
Das ist Yarden Romann. 35 Jahre. Ein Familienmensch. Hier mit ihrer 3-jährigen Tochter Geffen. Mutter und Kind waren unzertrennlich. Am 7. Oktober werden sie gewaltsam auseinandergerissen. An diesem Tag greift die Terrormiliz Hamas Israel an. Yarden ist gerade zu Besuch bei ihren Schwiegereltern, nahe Gaza. Auch hier dringen Hamas-Terroristen ein. Yardens drei Geschwister sind zu dem Zeitpunkt in Tel-Aviv.
O-Ton Gili Romann, Bruder von Yarden: "Wir wussten, es ist ernst. Ich habe Fragen gestellt, die ich normalerweise nicht stellen würde: Ist euer Haus abgeschlossen? Ist der Bunker abgeschlossen? Habt ihr eine Waffe? Seid vorsichtig!"
Die Angreifer dringen in Yardens Wohnort ein. Yarden schreibt ihrem Bruder Gili: "Als die ersten drei Schüsse gefallen sind, bin ich mit Geffen aus dem Bett gesprungen und wir sind runter in den Luftschutzbunker."
Offenbar ahnt Yarden nicht, was los ist. Sie sorgt sich nicht um ihr Leben. Sondern um den Teddy ihrer Tochter: "Pingwi?" - "Sie hat so nach ihm gefragt, ich habe ihn vergessen." Währenddessen suchen die Terroristen nach weiteren Opfern.
Chat Gili: "Hauptsache ihr seid bei ihr. Und das wird schön, wenn ihr Pingwi trefft, wenn ihr wieder rauskommt."
40 Minuten später.
Gili: Wie ist eure Lage?“
Yarden antwortet nicht mehr. Es ist das letzte Mal, dass ihre Familie etwas von ihr hört.
O-Ton Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident Israel: "Jeden Ort, an dem Hamas sich versteckt, werden wir in einen Trümmerhaufen verwandeln. Ich sage den Bewohnern von Gaza: Geht dort weg! Denn wir werden überall mit voller Kraft zuschlagen."
Kurz vor 11 Uhr, noch am selben Morgen, beginnt die israelische Armee Gegenangriffe auf Gaza.
O-Ton Abed: "Hier seht ihr sogar den Boden. Die Fenster in der ganzen Wohnung. Alles ist weg."
Das ist Abed. Deutscher Staatsbürger. Er ist zwei Tage vor Kriegsbeginn nach Gaza gereist. Hier hat er Familie. Das ist die Wohnung seines Cousins nach einem Raketeneinschlag.
O-Ton Abed: "Ich ducke mich mal, gefährlich."
Der 27-Jährige ist Deutsch-Palästinenser. Und oft in der Heimat seiner Eltern. Hier am Strand von Gaza. Sonst ist er am liebsten so unterwegs: Mit dem Fahrrad. Für uns wird er die nächsten Wochen seine Eindrücke aus Gaza festhalten. Hier ahnt Abed noch nicht wie nah er dem Tod kommen wird.
O-Ton Abed: "Endlich wieder Fahrrad fahren. Wurde auch mal Zeit."
Im Kibbuz Be’eri wird erst nach und nach das Ausmaß des Anschlags klar. Mindestens 100 Menschen werden allein hier getötet. Viele entführt. Gili Romann fährt immer wieder an den Tatort. Und sucht nach Spuren.
O-Ton Gili Romann, Bruder von Yarden: "Das zu sehen, zu verstehen, das macht mich kaputt. Der blanke Horror. Aber es motiviert mich auch extrem, meine Schwester zurückzubringen."
Das Haus, aus dem Yarden entführt wurde - ein Trümmerhaufen. Der Teddy ist noch hier. Gili erfährt immer mehr zur Entführung von Yarden, ihrem Mann und der Tochter.
O-Ton Gili Romann, Bruder von Yarden: "Ein Auto hat Yarden, Alon und Geffen nach Gaza gebracht. Auf dem Weg ist es ihnen gelungen, rauszuspringen, zu fliehen. Vier Terroristen schossen auf sie und rannten hinter ihnen her. Meine Schwester trug ihre kleine Tochter noch im Arm, aber war nicht schnell genug. Sie übergab sie an ihren Mann, der schneller war, um ihr Leben zu retten."
Ehemann und Tochter entkommen. Yardens Schwiegermutter wird erschossen. Und Yarden wohl nach Gaza verschleppt. Wie etwa 240 andere Menschen, so die israelische Regierung. Bilder wie diese gehen um die Welt. Der israelische Verteidigungsminister kündigt die "totale Blockade" Gazas an.
O-Ton Yoav Gallant, Verteidigungsminister Israel: "Keine Lebensmittel, kein Strom, kein Wasser, kein Benzin. Alles zu. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere."
O-Ton Abed: "Heute ist nicht normal. Die ganze Nacht ging es so. Nicht nur ein Angriff, sondern: Bambambam - alles hintereinander."
Abed bekommt den Krieg zu spüren. Wie die ganze Bevölkerung Gazas. Die Bombardierungen des israelischen Militärs werden von Tag zu Tag stärker. Gaza ist selbstverwaltet, aber kein unabhängiger Staat. Jetzt fordert Israel die Bevölkerung auf, aus Nord-Gaza in Richtung Süden zu flüchten. Es geht um eine Million Menschen.
O-Ton Abed: "Manch einer mag sich fragen, warum tut man sich das Ganze an? Warum reist man in ein Land, was von Krieg, Leid und regelmäßiger Zerstörung geprägt ist. Es ist ein Gefühl, das man nicht beschreiben kann, der Liebe, der Zuneigung, der Zugehörigkeit, es ist ein Gefühl der Barmherzigkeit."
Der Nahostkonflikt bestimmt auch seine Familiengeschichte. Abeds Großeltern wurden im Zuge der Staatsgründung Israels 1948 vertrieben, sagt er. Viele Palästinenser sehen darin die größte denkbare Katastrophe. Auch Abed. Diese Geschichte treibt ihn um. Und ein Grund, warum er jetzt filmt: Er will zeigen, welches Leid den Palästinensern widerfährt. Es ist seine Art zu kämpfen.
O-Ton Abed: "Ihr wollt nicht sehen, was ich grad sehe. Komplett. Komplette Zerstörung. Ein ganzer Wohnblock. Das, was in Berlin der Kudamm wäre oder in Düsseldorf die Kö. Die Hefte der Kinder, die hier gewohnt haben."
Unter der Hamas gibt es keine Pressefreiheit. Abed ist kein Journalist, aber er filmt, solange die Hamas ihn nicht stoppt. Sein Material immer vollständig überprüfen können wir nicht. Doch auf diesen Satellitenaufnahmen sehen wir den Stadtteil aus dem Video. Es passt. Das ist vor - und nach den Luftangriffen. Das Gesundheitsministerium geht von 11.200 getöteten Zivilisten aus. Es ist der Hamas unterstellt. Die UN hält solche Angaben aus Erfahrung dennoch für realistisch.
Yardens Familie in Tel Aviv organisiert Gespräche mit Politikern. Sie wollen, dass die Freilassung der Geiseln verhandelt wird. Sie wollen ihre Schwester zurück.
O-Ton Gili Romann, Bruder von Yarden: "Hey Roni, was ist das für eine Schokolade? Die gehört Yarden, oder?"
Vor kurzem war Yarden noch hier. Die vier Geschwister stehen sich sehr nah, sind oft zusammen in den Urlaub gefahren. Sie sind füreinander da. Auch jetzt.
O-Ton Liri Romann, Bruder von Yarden: "Wir haben im Moment sehr viel zu tun. Das hilft Yarden, aber gerade auch uns. So haben wir das Gefühl, alles zu tun, was in unserer Macht steht. Wir hoffen, dass man mit ihr nicht diese ganzen schrecklichen Dinge macht, wir haben keine Zeit darüber nachzudenken. Wir schieben das weg."
Yardens Bruder Gili und ihre Schwester Roni reisen nach Deutschland. Ihre Oma hat den Holocaust überlebt. So haben sie alle die deutsche Staatsbürgerschaft. Deutschland soll dabei helfen, die Geiseln zu befreien.
O-Ton Gili Romann, Bruder von Yarden: "Ich bin davon überzeugt, dass Deutschland sehr viel Einfluss auf die Hamas nehmen kann. Sie können helfen, sie in eine Ecke zu drängen oder sie dazu bringen, zu verhandeln. Oder beides, das wäre am besten. Wir brauchen heute einen Lebensbeweis, damit die Geiseln dann so schnell wie möglich freikommen."
Die Presse folgt ihnen überall hin. Symbolische Treffen mit Politikern. Fototermine. Auch im Schloss Bellevue sind sie eingeladen. Filmen dürfen wir bei den vertraulichen Gesprächen nicht. Immer wieder bitten sie um Hilfe. Immer wieder erzählen sie die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktobers.
O-Ton Roni, Schwester von Yarden: "Es tut mir leid, wir waren sehr bewegt. Wir sind für nur drei Tage hier und ich tue, was ich kann. Aber wir haben immer noch nichts. Sie geben mir Hoffnung, aber ich habe auch Angst, dass es uns nichts bringen wird. Es sind jetzt zwei Wochen vergangen und es muss endlich was passieren."
Die Angehörigen wissen von 22 Geiseln mit deutschen Pass. Das Außenministerium teilt mit, es nutze alle Gesprächskanäle, um auf Akteure der Region einzuwirken.
Für Abed wird es immer gefährlicher. Hier ist er auf der Suche nach Internetempfang.
O-Ton Abed: "Am Internetspot. Internetspot."
Mehrere Häuser seiner Verwandten werden zerbombt. Ein Freund schafft es nicht mehr rechtzeitig raus.
O-Ton Abed: "Ich habe erfahren, dass ein Freund von mir heute gestorben ist. Ein sehr guter Freund. Einer, der mir sehr viel, sehr, sehr viel über das Leben beigebracht hat. Einer der Menschen, auf die ich mich gefreut habe, wenn ich, wenn ich hierhergekommen bin, wenn ich nach Gaza gekommen bin."
Abed kann erstmal nicht nach Hause. Für deutsche Staatsbürger gibt es bisher keine politische Lösung. Der Grenzübergang nach Ägypten sei nur zeitweise offen. Und gefährlich, so Abed. Tatsächlich werden auch Ziele an der Fluchtroute mehrfach durch das israelische Militär angegriffen. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es, man arbeite intensiv daran, den deutschen Staatsbürgern die Ausreise zu ermöglichen.
Heute ist eine große Kundgebung am Brandenburger Tor. Hier wird Roni zu 10.000 Menschen sprechen.
O-Ton Roni, Schwester von Yarden: "Ich möchte euch jetzt bitten, einen Moment lang an den letzten Geburtstag zu denken, den ihr mit eurer Familie gefeiert habt. Meine Schwester hat heute Geburtstag. Und ich stehe hier vor euch allein. Ich weiß nicht, wo sie ist und ich kann sie nicht umarmen. Ich bitte euch: lasst mich nicht allein. Wir haben immer noch eine Chance auf ein kleines Happy End. Bitte singt mit mir, das einfachste aller Lieder: happy birthday!"
Hier und weltweit versammeln sich hunderttausende Menschen, um Solidarität mit Israel zu bekunden. Und genauso demonstrieren Hunderttausende weltweit für die Bevölkerung in Gaza. Wegen solcher Bilder. Ein Krieg, der Kinder und Unschuldige trifft. Festgehalten von palästinensischen Journalisten aus Gaza. Oder Influencern. Und solchen, die es durch den Krieg werden. Wie Abed. Aufnahmen wie diese teilt er. Sie gehen viral. Hier filmt er sich selbst, während er noch dabei ist, die Umstände zu begreifen. Das Nachbarhaus wurde vermutlich von einer Rakete getroffen. Und Abed nach vier Wochen Krieg - sichtlich am Ende.
O-Ton Abed: "Ich hab grad selbst eine Frau rausgezogen, die hat geatmet, die hat geatmet. Das ist Gaza, Das ist Gaza. Verdammt! Was können wir für diese Scheiße man?"
Ungewissheit - für die einen, ob ihre Angehörigen den Krieg in Gaza überleben. Ungewissheit für die anderen, ob sie ihre Liebsten jemals wiedersehen werden. Die kleine Geffen ist seit 35 Tagen von ihrer Mutter getrennt. Ihre Oma - erschossen. Wie erklärt man das?
O-Töne Liri Romann, Bruder von Yarden: "Wir reden eigentlich nicht darüber, aber Geffens Großmutter wurde ja direkt von der Hamas erschossen. Und Geffen ist so überfordert…"
Panorama: "Weiß sie das?"
Liri Romann: "Sie weiß das. Meine große Angst war, sie würde fragen, ob ihrer Mama dasselbe passiert ist. Wir sagen ihr alle, dass ihre Mama am Leben ist, dass wir alles tun, sie zurückzubringen. Aber ich kann nicht versprechen, dass ich sie am Ende vielleicht nicht doch enttäuschen muss. Vielleicht muss ich ihr irgendwann sagen, dass ihre Mama so ähnlich gestorben ist wie ihre Oma. Das ist das Ausmaß unserer Lage."
Die Sanduhren heute. Ein Symbol. Die Zeit der Geiseln läuft ab.
Nach dem Angriff auf das Nachbarhaus entscheidet sich Abed zu flüchten. Auf eigene Gefahr. Und ohne die Gewissheit, rauszukommen.
O-Ton Abed: "Es ist so schwer, ich sehe Leichen auf den Straßen, alles ist zerstört. Die Straßen sind zerstört."
Erst während der Flucht erfährt er: Sein Name ist endlich auf einer Liste für die Ausreise an der ägyptischen Grenze. Als deutscher Staatsbürger kann er Gaza nun verlassen. Für Abed endet der Krieg hier an dieser Grenze. Für über 2 Millionen Palästinenser gilt das nicht.
Abed ist wieder in Deutschland. Gestern Nachmittag treffen wir ihn in Berlin, in seiner Uhrmacherei. Abed hat sofort wieder angefangen zu arbeiten.
O-Ton Abed: "Alle haben nach mir gefragt und das ist halt am Ende des Tages immer schön, dann wieder die Leute zu sehen, Weil zwischenzeitlich war es ja wirklich so, dass ich mich abgefunden habe, dass ich jeden Morgen sterben kann."
Seit 5 Tagen ist Abed wieder in Berlin zurück.
Panorama: "Wie gehts dir?"
Abed: "Schwierig zu beantworten. Also Gott sei Dank für alles. Auf jeden Fall dafür, dass ich jetzt hier bin. Aber solange die Leute dort, die ich lieben und schätzen gelernt habe, nicht in Sicherheit sind, werde ich erst mal beschäftigt sein für eine Zeit."
Panorama: "Wie blickst du auf das, was am 7. Oktober passiert ist, dass auf der anderen Seite der Grenze ZivilistInnen entführt wurden und auch getötet wurden?"
Abed: "Jedes Vergehen an Zivilisten ist unakzeptabel, unakzeptabel. Und das ist eine rote Linie und die darf man nicht überschreiten."
Versteht er dadurch auch die Gegenangriffe Israels?
O-Ton Abed: "Für mich persönlich in meinem moralischen Kompass. Wenn mir jemand ein Unrecht tut, heißt das nicht, dass ich ihm auch Unrecht tun kann. Unrecht wird nicht mit Unrecht bekämpft."
Abed ist wieder in Deutschland. Familie und Freunde in Gaza. Einige sind schon tot, viele in Lebensgefahr.
Von Yarden gibt es bis heute kein Lebenszeichen.
Beitrag: Armin Ghassim, Lisa Hagen, Mariam Noori, Timo Robben, Sulaiman Tadmory Mitarbeit: Manuel Biallas, Dor Glück, Leonie Hartge, Olga Patlan, Pia Steckelbach
Kamera: Lisa Hagen, Uzi Mor, Ben Reiss, Abu samo Al daya, Sulaiman Tadmory
Schnitt: Julian Schöneich, Piet Lorenzen, Marc Peschties