Thüringen: Was heißt hier Demokratie
Thomas Kemmerich wurde mit Hilfe der AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt. Sowas rückgängig machen – ist das demokratisch?
In Thüringen wurde der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt – mit den Stimmen der AfD, die dafür ihren Kandidaten nicht mehr unterstützte. Kemmerich nahm die Wahl an. Das erschüttert das ganze Land.
Wie auch immer man zu dem Debakel von Erfurt steht, es bleibt ein Störgefühl. Da wird jemand gewählt, nach regulären Spielregeln, aber dann soll es nicht gelten. Es tönt aus Berlin und dann auch von der Kanzlerin während ihrer Südafrikareise: Das muss rückgängig gemacht werden – mindestens die Zustimmung der CDU. Am besten solle Kemmerich zurücktreten, am besten gleich Neuwahlen.
Irgendwie regt sich erstmal Widerstand, das geht gegen das Gelernte: Sowas einfach rückgängig machen – ist das demokratisch? Diese Frage wurde sofort vor allem von der AfD besetzt, weshalb sie jetzt kaum noch einer laut stellen mag. Aber man muss sich mit dieser Frage beschäftigen. Sonst bleibt der schale Beigeschmack.
Es hilft, wenn man sich die Argumente bei den wichtigsten Fragen anschaut und für sich abwägt:
Der FDP-Kandidat Thomas Kemmerich wurde im dritten Wahlgang mit den Stimmen der FDP, der CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Die AfD hat dafür ihrem eigenen Kandidaten keine Stimme gegeben. Muss in der Demokratie jedes Abstimmungsergebnis akzeptiert werden?
Hans-Georg Maaßen, CDU (Werte-Union):
Es war eine demokratische Entscheidung, dass Thomas Kemmerich mit der Mehrheit der Stimmen des Thüringer Landtags zum Ministerpräsidenten gewählt geworden ist. Ich teile dieses Entsetzen und diese moralische Entrüstung nicht. Ich teile sie deswegen nicht, weil es letztendlich bei Wahlen nicht darauf ankommt, von wem man gewählt wird, sondern wer gewählt wird.
Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler:
Wenn man von bestimmten Abgeordneten gewählt wird, ist das eben mehr als nur das Einkassieren von Stimmen, sondern damit verbunden sind untergründige, zunächst noch unausgesprochene Loyalitäten, Erwartungen gegenüber denen, von denen man in dieser Situation profitiert hat. Demokratie beruht auf dem Prinzip, dass alle Abstimmungen, die im Parlament gemacht worden sind, auch revidiert werden können. Das, was von der Werte-Union und der AfD als Schwäche der Demokratie dargestellt wird, ist in Wahrheit ihre Stärke, nämlich zu begreifen, dass das ein Weg ist, den man da beschritten hat, der keine guten Folgen haben wird.
Bundeskanzlerin Angela Merkel war am Tag nach der Ministerpräsidenten-Wahl auf Staatsbesuch in Südafrika. Von dort kommentierte sie die Vorgänge von Erfurt:
"Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat für die CDU und auch für mich – nämlich dass keine Mehrheiten mit Hilfe der AfD gewonnen werden sollen.
Da dies absehbar war in der Konstellation, wie im dritten Wahlgang gewählt wurde, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist. Und deshalb auch das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss. Zumindest gilt für die CDU, dass die CDU sich nicht an einer Regierung unter dem gewählten Ministerpräsidenten beteiligen darf.
Es war ein schlechter Tag für die Demokratie. Es war ein Tag, der mit den Werten und Überzeugungen der CDU gebrochen hat. Und es muss jetzt alles getan werden, damit deutlich wird, dass dies in keiner Weise mit dem, was die CDU denkt und tut, in Übereinstimmung gebracht werden kann. Daran wird in den nächsten Tagen zu arbeiten sein."
Schadet diese Aufforderung der Demokratie?
Hans-Georg Maaßen, CDU (Werte-Union):
Es bedeutet aus meiner Sicht, dass es ein Schaden ist für die Demokratie. Der Landtag hat gewählt, die Abgeordneten des thüringischen Landtags sind nach der Landesverfassung unabhängig und keinen Weisungen unterworfen. Weder den Weisungen der jeweiligen Parteizentrale, noch den Weisungen von Fraktionsvorsitzenden, noch den Weisungen von Bundesministern. Sie haben unabhängig entschieden und das ist zu respektieren.
Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler:
Ich kann nicht sehen, dass daran irgendetwas die Demokratie oder den Verfassungsstaat gefährdet. Die Thüringer konnten das auf sich wirken lassen oder konnten das zurückweisen. Das ist ein normaler Vorgang demokratischer Kommunikation. Und wer das mit dem Etikett der Verfassungswidrigkeit versieht, der hat von dieser Demokratie und dieser Verfassung, glaube ich, nichts begriffen.
Prof. Werner Patzelt, Politikwissenschaftler & Mitglied CDU (Werte-Union):
Man darf mit den Bürgern in einer Demokratie nicht so umgehen, als wären sie die Komparsen, die die Statisterie eines politischen Spiels durch die Großen in der Politik nach ihrem Gusto und Wohlgefallen ausgestalten. Es ist der Bürgerwille, nach dem man im Wahlkampf auf ihn Einfluss zu nehmen versucht hat, so zu akzeptieren, wie er sich dann in der Zusammensetzung eines Parlamentes widerspiegelt.
Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler:
Bei der Betrachtung und Bewertung der Vorgänge in Thüringen können wir ja nicht so tun, als hätte es nie eine deutsche Geschichte davor gegeben. Es gab eine Demokratie, die Weimarer Demokratie, die sich selbst zerstört hat durch Unklugheit, durch Unbedachtheit, aber auch durch Bösartigkeit. Und die Spuren von Weimar weisen natürlich darauf hin, dass Demokratien nicht unverwundbar sind und dass sie auch untergehen können. Man kann in vielerlei Hinsicht sagen, Höcke und seine Berater haben ein Konzept, das darauf hinausläuft, den demokratischen Rechtsstaat auszuhöhlen und zu Fall zu bringen. Das haben sie teilweise öffentlich kommuniziert, und insofern ist es naheliegend zu sagen: Wir wollen aber nicht, dass sich wiederholt, was das Ende der Weimarer Republik ausgemacht hat. Ich würde das jetzt nicht als ein fundamentales demokratietheoretisches Argument ansehen, sondern der Lernfähigkeit von Bürgern und Politikern ins Stammbuch schreiben.
Thomas Kemmerich ist nach drei Tagen im Amt als Ministerpräsident von Thüringen zurückgetreten. Von vielen Seiten wurden daraufhin Neuwahlen gefordert. Ist diese Forderung undemokratisch?
Prof. Werner Patzelt, Politikwissenschaftler & Mitglied CDU (Werte-Union):
Ich halte es für undemokratisch, ein Volk so lange wählen zu lassen, bis ein Parlament zustande kommt, mit dem die politische Klasse bequem umzugehen vermag. Genau das wird in Thüringen versucht. Und das ist nicht in Ordnung.
Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler:
Neuwahlen sind sozusagen die Rückgabe einer Entscheidung des Wählers an den Wähler mit dem Hinweis: Überlegt euch nochmal, ob ihr tatsächlich eine Situation der tendenziellen Unregierbarkeit Thüringens oder der Unmöglichkeit der Bildung einer stabilen Regierung haben wollt! Insofern würde ich sagen: Das ist nicht undemokratisch. Sondern es ist immer wieder demokratisch, wenn die Entscheidung wieder in die Hände des Wählers gelegt wird.