Beinah-Zusammenstöße im deutschen Luftraum
170 gefährliche Annäherungen von Luftfahrzeugen hat es in den vergangenen vier Jahren im deutschen Luftraum gegeben. Einer 17-jährigen Segelfliegerin wäre dies fast zum Verhängnis geworden.
In den vergangenen vier Jahren ist es im Luftraum über Deutschland zu über 170 potentiell gefährlichen Annäherungen von Luftfahrzeugen gekommen. Das geht aus Zahlen der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) hervor, die dem NDR vorliegen. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um Alarme von Kollisionswarnsystemen, die Verkehrspiloten zur sofortigen Kursänderung auffordern. In anderen Fällen wurden gefährliche Annäherungen und Beinahezusammenstöße von den Piloten beobachtet, ohne dass sie zuvor gewarnt worden waren.
Luftfahrtexperten gehen davon aus, dass die Gesamtzahlen noch höher sind, weil Meldungen auch bei anderen für die Luftfahrt zuständigen Behörden eingehen. Zudem gebe es eine erhebliche Dunkelziffer nicht gemeldeter Zwischenfälle. Die Gründe für gefährliche Annäherungen seien vielfältig: immer mehr Flugbewegungen, inkompatible Kollisionswarnsysteme großer und kleiner Flugzeuge, fehlende Funktechnik bei Privatfliegern - aber auch Verkehrspiloten, die aufgrund des Zeitdrucks Abkürzungen durch mit Segelfliegern gemeinsam genutzte Lufträume nehmen.
Viele Zwischenfälle im "gemischten Luftraum"
Immer wieder kommt es auch im sogenannten gemischten Luftraum, einer von großen wie kleinen Flugzeugen genutzten Zone in der weiteren Umgebung von Verkehrsflughäfen, zu solchen Zwischenfällen. So gab es im Jahr 2018 alleine in Nordrhein-Westfalen im Umfeld der Flughäfen Weeze und Paderborn in mindestens acht Fällen Annäherungen zwischen Verkehrsflugzeugen und Segelfliegern, bei der Passagiermaschinen in einzelnen Fällen mehrmals ausweichen mussten, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Am 23. Juli 2019 verfehlten sich in Schleswig-Holstein südlich von Lübeck ein Airbus A 321 der Lufthansa und ein Segelflugzeug nur um wenige Meter. "Plötzlich tauchte neben mir ein großer Schriftzug 'Lufthansa' auf, in etwa 40 bis 60 Metern Entfernung", beschreibt die betroffene Segelflug-Pilotin Anne-Sophie Polz die Begegnung mit der mit 175 Menschen besetzten Maschine im Anflug auf den Hamburger Flughafen.
Hohe Frequenz, teilweise mangelhafte Technik
Ein vorläufiger Untersuchungsbericht der BFU geht davon aus, dass sich sowohl die Segelfliegerin als auch der Lufthansa-Pilot in dem betreffenden Luftraum aufhalten durften. Beide Flugzeuge hatten sich offenbar jedoch aufgrund unterschiedlicher Warnsysteme zuvor nicht wahrnehmen können. Das Segelflugzeug konnte zudem aufgrund fehlender technischer Ausstattung weder von der Lufthansa-Maschine, noch vom Fluglotsen auf dem Radar erkannt werden. Ein Lufthansa-Sprecher teilte hierzu mit, man unterstütze bei solchen Vorfällen im Flugbetrieb die Untersuchungsarbeit der zuständigen Stellen, wolle dem Ergebnis aber nicht vorgreifen.
Christoph Strümpfel vom Institut für Luft- und Raumfahrt der TU Berlin sieht als einen wichtigen Grund für solche Zwischenfälle den zunehmenden Flugverkehr: "Der deutsche Luftraum ist einer der meistfrequentierten Lufträume in Europa." Man setze gerade in gemischten Lufträumen, wo Verkehrsflugzeuge mit Privatfliegern zusammentreffen, auf das fliegerische Prinzip "Sehen und ausweichen", das aber nicht selten an seine Grenzen komme. Strümpfel sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, hier strengere Regeln zu erlassen.
"Das hätte auch krachen können"
Herbert Märtin vom Deutschen Segelflugverband kritisiert die Verkehrspiloten, die aus Zeitdruck immer häufiger auch auf gemischte Lufträume auswichen, obwohl ihnen sichere, kontrollierte Lufträume zur Verfügung stünden: "Gewisse Aufhol-Effekte im Flugplan der Airlines dürfen nicht auf Kosten der Sicherheit gehen, indem der geschützte Luftraum für den kommerziellen Luftverkehr verlassen wird." Märtins Verband setzt gerade mit Blick auf die Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G auf technische Neuerungen, "die hier weitere Verbesserungen schaffen werden."
Felix Gottwald von der Vereinigung Cockpit hält die Gefahr einer Kollision zwischen einer Passagiermaschine mit einem kleineren Flugzeug für absolut realistisch: "Es erstaunt mich schon, dass da noch nichts passiert ist, weil wir genügend Berichte haben, wo es eben ganz knapp war, wo Flugzeuge nur per Zufall aneinander vorbeigeflogen sind. Das hätte auch krachen können. Von daher ist es nur eine Frage, wann so etwas passiert und nicht ob."
Gottwald weist aber auch noch auf ein anderes Problem hin: Die Meldungen über gefährliche Annäherungen gingen nicht nur an die BFU, sondern auch an andere Stellen. Das Problem sei, "dass wir Risiken nicht ordentlich analysieren, dass es verschiedene Meldewege gibt, um Annäherung zwischen Flugzeugen zu melden, die aber nicht miteinander harmonieren." Ein Umstand, den auch Verkehrsexperten im Bundestag kritisieren. Das Problem sei seit langem bekannt, sagt Bernd Reuther (FDP): "Da hätte deutlich früher etwas getan werden müssen." Markus Tressel (Grüne) fordert "schleunigst eine gemeinsame statistische Grundlage. Die Bundesregierung muss das jetzt schaffen."
Sind Transponder in allen Fliegern sinnvoll?
Eine von der BFU bereits vor zwei Jahren geforderte Pflicht zur Ausrüstung aller Luftfahrzeuge mit sogenannten Transpondern, also Sendern, die die Position und den Kurs eines Flugzeuges ausstrahlen, wird von den meisten Experten jedoch kritisch gesehen. Die Deutsche Flugsicherung hatte Anfang 2019 durch eine Simulation festgestellt, dass dies zu einer Überlastung der Funkfrequenzen führen würde und der Flugsicherheit eher schade. Das Bundesverkehrsministerium teilte auf Anfrage mit, dass es die Thematik derzeit zusammen mit Experten untersuche: "Als Teil der Flugsicherheitsarbeit werden die relevanten Punkte für eine mögliche Umsetzung identifiziert und betrachtet." Eine konkrete Anfrage zu den BFU-Zahlen ließ das Ministerium bislang unbeantwortet.