Demenz: Das Martyrium der Angehörigen
Vor vier Jahren fing es bei Paul D. an: Seitdem ist nichts mehr selbstverständlich. Alltägliche Handgriffe, einfache Sätze, in seinem Kopf gerät alles durcheinander. Seinen Sohn hatte er einst alleine groß gezogen. Nun sind die Rollen vertauscht. Ohne die Hilfe seines Sohnes kommt der 82-Jährige nicht mehr zurecht. Aufstehen, Anziehen, Waschen, Zähne putzen, Frühstück machen, Putzen, Einkaufen - bei allem muss Stefan D. nun helfen. "Der Kopf ist wie vernagelt. Und auf einmal - wuff! Ist alles weg", so versucht der alte Mann seine Situation zu erklären und spricht von dem "kleinen Mann" in seinem Kopf, der alles in Unordnung bringe.
Alles in Unordnung
Der "kleine Mann" ist schuld, dass der Rasierschaum auf der Zahnbürste landet, das Duschwasser kochend heiß ist und Paul D. sich verbrühen würde - wenn nicht sein Sohn inzwischen fast alle seine Schritte begleitete. "Es kommt vor, dass er versucht, sich die Hose über den Kopf zu ziehen", erzählt dieser. Es sei schon passiert, dass sein Vater sich anderthalb Stunden lang anzuziehen versuchte und am Ende vollkommen verzweifelt war. "Er merkt es ja, nur es haut nicht hin."
Eigentlich wäre den ganzen Tag Hilfe nötig. Doch der Sohn ist berufstätig und kann die Pflege nicht alleine leisten. Zweimal hat er darum eine Einstufung als Pflegefall für seinen Vater beantragt, zweimal hat die Pflegeversicherung abgelehnt. Da er keine Pflegestufe bekommt, bleibt für Paul D. nur das viel geringere Betreuungsgeld für Demenzkranke. Das sind gerade einmal 200 Euro monatlich. Das würde im Monat nur für drei Tage Betreuung in einer Tagespflege reichen, die eigentlich jeden Tag nötig wäre, damit der Vater gut versorgt ist, während der Sohn arbeitet.
Vom System im Stich gelassen
Das System lässt die Demenzkranken und ihre Angehörigen im Stich. Für die Bewilligung einer Pflegestufe stehen nach wie vor körperliche Einschränkungen im Fokus. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen, kurz MDK, begutachtet jeden beantragten Fall einzeln. Doch er achtet immer noch vor allem auf die körperlichen Voraussetzungen, um ein eigenständiges Leben zu führen. Diese gesetzlichen Vorgaben führten zu einer Benachteiligung der Demenzkranken, sagt Martin Schünemann vom MDK Nord.
Schon jetzt leben rund 1,3 Millionen Demenzkranke in Deutschland. Und es werden immer mehr. Die Politik versprach bereits 2005 eine Pflegereform, die die Bedürfnisse von Demenzkranken besser berücksichtigen sollte. Die Gesundheitsminister Ulla Schmidt, Philipp Rösler und Daniel Bahr versicherten der Reihe nach: Besserung wird kommen. Doch nach über sieben Jahren warten die Betroffenen noch immer auf eine Grundsatzreform.
Warten auf die große Reform
Gesundheitsminister Daniel Bahr weist die Kritik zurück und führt seine jüngste Reform ins Feld: das Pflegeneuausrichtungsgesetz. Demenzkranke, die bislang durchs Raster fallen, bekommen seit Januar 120 bis 225 Euro mehr im Monat. Das Pflegeneuausrichtungsgesetz sei ein "Vorgriff" auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Etwa 500.000 Demenzerkrankte und ihre Angehörigen, die bisher keine oder kaum Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten hätten, würden nun Leistungen bekommen, sagt Bahr. "Ein deutlicher Fortschritt für Demenzkranke, für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen." Und die große Reform eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes? Sie sei komplex und benötige noch Zeit.