Sendedatum: 01.02.2002 21:45 Uhr

Zwischen Babyklappe und Kohlenkeller - Streit um anonyme Geburten

von Bericht: Thomas Berndt, Gita Ekberg

 

Es ist eigentlich unvorstellbar: Eine Mutter tötet ihr gerade eben geborenes Kind. Sie wirft es in eine Mülltonne, lässt es irgendwo im Park liegen oder ertränkt es eigenhändig. In Deutschland werden jedes Jahr rund sechzig ausgesetzte Babys gefunden, die Hälfte davon bereits tot. Wie viele nie entdeckt werden, wagt niemand zu schätzen. In einigen Bundesländern gibt es inzwischen die Möglichkeit anonym abzugeben. Für sie werden dann Pflege- bzw. Adoptiveltern gesucht. Unter Umständen erfahren die Kinder zwar so nie etwas über ihre leiblichen Eltern, aber sie leben. Und wo bringen die Frauen, die eine Geburt um jeden Preis verheimlichen wollen oder müssen, ihre Babys zur Welt?


Klaus Püschel, Chef der Hamburger Rechtsmedizin, ist einiges gewöhnt: Tote sind sein tägliches Geschäft, Leichenschau und Obduktion gehören zum Standard. Kaum etwas bringt ihn aus der Fassung - außer tote Kinder, neugeborene Babys, aufgefunden irgendwo in der Stadt.

VIDEO: Zwischen Babyklappe und Kohlenkeller - Anonyme Geburten (8 Min)

Püschel berichtet: "Sie werden zum Teil im Freien gefunden oder in irgendwelchen Verstecken verscharrt, vergraben, im Koffer, im Plastikbeutel. In einzelnen Fällen wie im vorletzten Jahr auch in solchen besonderen Situationen wie im Bereich einer Müllverbrennungsanlage oder auch im Müllcontainer. Und die bekannt gewordenen Fälle machen eine Zahl von etwa 30 pro Jahr aus. Nun muss man aber sicher davon ausgehen, dass es hier ein nicht unerhebliches Dunkelfeld gibt, weil es eben nicht allzu schwierig ist, neugeborene Kinder zu verbergen."


Schwester Monika, Franziskanernonne aus der Nähe von Berlin, nimmt Kinder auf, ohne viel zu fragen, auch anonym. Zu ihr kommen Mütter in der allergrößten Not. Der kleine Gabriel lebt erst seit vier Wochen bei ihr. Zwei Kinder schon sind zu ihr ins Haus gekommen statt auf den Müll. Das erste Baby vergisst sie nie.

Schwester Monika vom Kinderhaus "Sonnenblume" ist immer wieder erschüttert: "Das ist schon heftig, wenn eine Mutti ihren Säugling so auf den Tisch stellt, in einem kleinen Körbchen, und dann wieder weggeht. Aber ich habe selten auch so eine verzweifelte Frau erlebt, wie es diese Frau gewesen ist. Fast in allen Fällen bemerkt die Frau ihre Schwangerschaft erst sehr spät. Das hat sicher auch was mit Verdrängung zu tun. Aber im 6., 7. Monat, wenn die Schwangerschaft bemerkt wird, ist es für eine Abtreibung zu spät, und dann gerät die Frau in Panik und sieht keinen Ausweg. Und mehr als eine Frau hat schon gesagt: Wenn ich hier nicht anonym hinkommen kann, dann weiß ich nicht, was ich mit meinem Kind mache."

Die Kinder stammen von minderjährigen Mädchen, obdachlosen Müttern, vor allem aber von verheirateten Frauen aus gutbürgerlichem Haus, sagt sie, die Männer Rechtsanwalt, Beamter oder Banker. Eine Fassade, dahinter Ängste und Verzweiflung. In Briefen schildern Frauen der Nonne immer wieder ihre Not, auch noch nach Jahren - selbst wenn es längst zu spät ist:

"Zum Beispiel habe ich hier den Brief einer Frau, die in einer ländlichen Gegend wohnt, zwei Kinder hatte, und sie wusste, dass der Mann kein drittes Kind duldet. Sie war aber schwanger und hat die Schwangerschaft verborgen, nicht nur vor ihrem eigenen Mann, auch vor ihrer Umwelt. Und als es zur Entbindung kam, die Wehen einsetzten, ist sie nach Berlin gefahren. Und sie schreibt dann hier: ‚Ich fuhr nach Berlin, dieser großen, anonymen Stadt. Hier kannte mich niemand. Ich wollte das Problem los werden. Und dann geschah es. Auf einer öffentlichen Toilette brachte ich mein Kind zur Welt. Ich gab ihm aber keine Chance zum Leben, sondern spülte es weg. Ich übergab mich fürchterlich. Als ich wieder klar denken konnte, war alles vorbei. Aber ich fühlte unendlichen Ekel vor mir selber.' Diese Frau macht uns auch Mut für unsere Arbeit, denn sie schreibt: ‚Wenn ich von Ihrem Haus gewusst hätte, dann würde mein Kind noch leben'."


Hamburg, das Projekt "Findelbaby". Plakataktion und Bilanz nach einem Jahr: Sechs Babys wurden abgegeben, vor wenigen Tagen kam das Siebte. Einen toten oder ausgesetzten Säugling gab es seitdem nicht mehr in der Stadt. In der sogenannten Babyklappe können Frauen anonym ihr Kind abgeben, und schon wenig später kümmern sich ein Helfer und ein Arzt.

Eines dieser Findelkinder ist Rasmus. Inzwischen hat er sich gut erholt. Als er jedoch in die Klappe gelegt wurde, war er schwer erkrankt, Folge einer heimlichen Geburt, irgendwo zwischen Klo und Kohlenkeller, ohne Arzt, ohne Krankenhaus. Eine riesige Beule am Kopf, aus Blut und Wasser, ein Hämatom.

Heidi Kaiser vom Projekt "Findelbaby": "Unter ärztlicher Behandlung ist so ein kleines Hämatom gar kein Problem heutzutage. Dieses Kind hatte wohl keine ärztliche Hilfe, das heißt, die Mutter hat das Kind alleine geboren, konnte eben auch selbst keine Hilfe entgegennehmen. In der schwersten Stunde ihres Lebens sind sie dann in irgendeiner Wohnung, in einem Keller, in einem Treppenhaus. Auf einer Bahnhofs- oder Gaststättentoilette, auf einer Autobahnraststätte sind Kinder schon bereits zur Welt gekommen. Das ist lebensgefährlich für Mutter und Kind."

Eine Gefahr, die auch Christina drohte, wenige Tage vor der Geburt. Sie lebt schon lange in Deutschland, hat zur Zeit aber keine Aufenthaltsgenehmigung. Offiziell ins Krankenhaus kann sie deshalb nicht. Und Hilfe vom Vater des Kindes ist schon gar nicht zu erwarten: "Das war eine Vergewaltigung. An eine Schwangerschaft habe ich gar nicht gedacht. Dann aber wurde der Bauch immer dicker, und für eine Abtreibung war es dann sowieso zu spät. Ich lebe eigentlich auf der Straße, da hätte ein Kind keine Chance. Wenn ich jetzt nicht in eine Klinik gehen könnte, ohne zu sagen, wer ich bin, ich hätte das Kind irgendwo geboren, es da liegen gelassen und wäre abgehauen."

Dr. Rolf Ackermann von der Frauenklinik in Flensburg hat Christina entbunden, ohne nach ihrem Namen zu fragen, anonym - und damit illegal. Denn als Arzt ist er in Deutschland verpflichtet, den Behörden jede Geburt zu melden, inklusive Namen und Adressen der Eltern. Trotzdem hat er in diesem Notfall die Entbindung durchgeführt, anonym. Die Gesundheit von Frau und Kind waren ihm wichtiger als Paragraphen.

Ackermann: "Wir respektieren den Willen der Frauen, die anonym entbinden wollen. Die haben ja genug Probleme, dass sie überhaupt in eine solche Situation kommen, sich anderen Leuten anvertrauen müssen. Und sie können mit Recht erwarten, dass man das respektiert und dass man nicht zu sehr in sie dringt."


Der Operationssaal, für Christina lebenswichtig. Eine Geburt voller Komplikationen, am Ende sogar mit Kaiserschnitt. Dr. Ackermann ist sich sicher: "Also wenn diese Frau draußen alleine entbunden hätte, dann hätte es deletär, also ganz schlimm für das Kind, dass das Kind im schlimmsten Falle tot gewesen wäre, die Frau hätte krampfen können, dass auch sie in Gefahr gekommen wäre. Wenn es besser ausgegangen wäre, wäre das Kind aber nach aller Wahrscheinlichkeit unter der Geburt geschädigt worden."

Thomas Weber vom Bundesjustizministerium: "Juristisch gesehen verstößt er hier gegen seine Pflichten, gegen geltendes Recht. Er verhält sich hier nicht rechtskonform, und deshalb kann das auch nicht gebilligt werden."

Illegal geboren, aber am Leben und gesund. Die Tochter von Christina, jetzt bei Pflegeeltern. In Deutschland ist so ein Kind nicht erwünscht, im Gegensatz zu Teilen der USA oder Frankreich. Dort sind anonyme Geburten schon lange möglich und legal. Deutsche Behörden beharren auf dem Recht des Kindes, zu erfahren, wer die Eltern sind. In vielen Bundesländern, von Bayern bis nach Schleswig-Holstein, regt sich Widerstand. Die Forderung: das Abstammungsrecht ändern, zum Wohle von Frau und Kind.


Die schleswig-holsteinische Justizministerin Anne Lütkens: "Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es schwangere Frauen gibt, die in großer Notlage sind, die keinen anderen Ausweg sehen als eine anonyme Geburt. Und diese Frauen möchten wir, möchte ich als Justizministerin, aber gerade auch als Frauenministerin unterstützen. Es ist eine gesellschaftliche Situation, wo eine solche anonyme Geburt möglich sein muss."

Im Bundesministerium hingegen bleibt man weiter stur. Anonyme Geburt verboten, dazu die panische Angst vor Missbrauch. Thomas Weber: "Man darf auch nicht durch das Schaffen einer Möglichkeit, nämlich die Möglichkeit, Kinder auf diese Art und Weise anonym zu gebären, auch dort, wo keine existenzielle Notsituation vorliegt, durch das Schaffen einer solchen Möglichkeit so etwas befördern."

Schwester Monika sieht das anders: "Wenn sie es sich leicht machen würde, würde sie ihr Kind in den Müll schmeißen. Aber eine Mutter, die ihr Kind anonym abgibt, will doch für ihr Kind das Beste. Und genau so ist es, wenn eine Mutter die Möglichkeit hat, im Krankenhaus anonym zu entbinden. Dann lebt das Kind, und dann wiegt doch das Leben des Kindes eigentlich alle kritischen Fragen auf."

Weiterführende Informationen

Notruf-Telefon der Aktion "Mütter in Not" von SterniPark e.V.: Tel.: 0800 456 0789 (gratis und 24 Std.)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 01.02.2002 | 21:45 Uhr

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