Sendedatum: 11.10.2001 20:15 Uhr

Demokraten und Despoten - Die scheinheilige Allianz gegen den Terror

von Bericht: Christine Adelhardt, Ilka Brecht

"Er wollte um die Sowjetunion einen ganzen Gürtel von fundamentalistischen Staaten legen, die von dort aus dann die Sowjetunion auseinander treiben sollten, destabilisieren sollten", sagt Andreas von Bülow, Sicherheitsexperte. "Und zu diesem Zweck haben sie saudisches Geld genommen, sie haben amerikanisches Geld genommen, sie haben Drogengeld genommen und haben diese ganzen Afghanen ausgebildet, darunter auch Bin Laden. Insofern hat Amerika mit seinen Veteranen zu tun, nicht mit seinen amerikanischen Veteranen, sondern mit seinen Hilfsvölkerschaften, die es sich angelacht hat."

VIDEO: Doppelmoral: Die scheinheilige Allianz gegen den Terror (8 Min)

Wenn es um die Durchsetzung eigener Interessen ging, nahm es die Supermacht mit Gut und Böse nie so genau - unterstützte Diktatoren und Despoten: Noriega in Panama, Pinochet in Chile, Contras in Nicaragua. Schon US-Präsident Franklin D. Roosevelt hatte über den Diktator Somoza senior gesagt: Das ist ganz bestimmt ein Hurensohn, aber es ist unser Hurensohn.

Und sogar er war einst ihr Hurensohn: Saddam Hussein, hochgerüstet als verlängerter Arm der USA im Kampf gegen den Iran. Heute eine Hassfigur. So werden aus Freunden ganz schnell Feinde und umgekehrt.

Dazu der Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel: "Dem Westen wird vorgeworfen, dass er im Irak seit zehn Jahren die irakische Bevölkerung durch die Sanktionen stranguliert, dass soundso viele Kinder und kranke Menschen sterben, weil sie nicht mehr ernährt werden können. Dem Westen wird vorgeworfen, dass er seit drei Jahren den Irak bombardiert. Da kommen ja auch Zivilisten ums Leben. Und insofern ist die Doppelmoral schon da. Und der Westen nimmt für sich Freiheiten in Anspruch, die er andererseits denen, gegen die er sich wendet, nicht zubilligen will."

Andreas von Bülow sagt: "Ich glaube, dass insbesondere natürlich in Nahost, aber auch in vielen Ländern, Entwicklungsländern, in den letzten Jahren eine Politik gemacht worden ist, die eher der Ausbeutung der Bodenschätze gegolten hat, als irgendwo stabile Verhältnisse herbeizuführen. Und da hat Amerika natürlich auch gesündigt."

Kommt jetzt die Wende? Sicher, das Schmieden einer Allianz ist allemal besser, als blind loszuschlagen. Aber was ist das für eine Allianz? Wirklich eine Allianz der Guten gegen die Bösen? Verpackt in einer Drohung lädt US-Präsident Bush alle ein, Freunde und Finsterlinge.

"Jede Nation überall auf der Welt muss sich entscheiden: Entweder ihr seid mit uns oder mit den Terroristen", sagt George W. Bush.

Ein Freibrief. Ob Partner oder Schurkenstaat - wer will und kann soll tunlichst dabei sein. Und jeder bekommt auch etwas dafür.

Pakistan spendet Überflugrechte. Der Lohn: Wirtschaftssanktionen, verhängt gegen die suspekte Atommacht, werden aufgehoben, Kredite in Aussicht gestellt.

Usbekistan dient sich als Aufmarschgebiet für den Militärschlag an. Der Dank: Kein Mensch hinterfragt mehr die Gewaltherrschaft der amtierenden Regierung.

Und warum bleibt China so erstaunlich ruhig? Dort erhofft man sich mehr Verständnis für die Unterdrückung muslimischer Separatisten. Freie Hand für den repressiven Umgang mit tatsächlichen oder eben mal so benannten Terroristen.

Jetzt ist die Zeit, in der sich Staaten einer kritischen Beurteilung ihrer Politik entziehen können, auch Russland. Der Tschetschenien-Krieg erscheint plötzlich in neuem Licht.

Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärt: "Ich habe gemeint, dass es in Bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und sicher auch kommen wird."

Differenziert? Im Klartext: Kritik an Menschenrechtsverletzungen fällt vorerst aus. Im Zuge der Anti-Terror-Allianz droht der Westen, seine eigenen Werte aufzugeben. Trittbrettfahrer erwünscht.

Ernst-Otto Czempiel glaubt: "Internationale Politik wird wie alle Politik in der Regel aus reinen Machtinteressen gemacht, und zur Verwirklichung dieser Machtinteressen holt man jeden ins Boot, der mitmachen will und mitmachen kann. Und was er damit sonst noch bezweckt, das interessiert eigentlich gar nicht mehr."

Ein Zweckbündnis also, das den Militärschlag legitimiert - auch auf die Gefahr hin, eine ganze Region weiter zu destabilisieren. Pakistan droht zu zerreißen, radikale Fundamentalisten auf dem Vormarsch. Folgen, die keiner, schon gar nicht der Weltpolizist Amerika, gut heißen kann. Doch all dies geht unter im Gemisch aus Patriotismus der Amerikaner und uneingeschränkter Solidarität der Bündnispartner. Kritische Kooperation - im Terrorschock begraben.

"Heute sind wir alle Amerikaner", verkündet Gerhard Schröder.

Im allgemeinen Solidaritätstaumel scharen sich die Nato-Partner brav hinter die Führungsmacht USA. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, die nötige Bestrafung von Verbrechern wird zu einer militärischen Aufgabe. Die Nato als Hilfssheriff?

"Der Westen denkt immer noch in den Kategorien des Kalten Krieges, das heißt, dass der Feind von außen kommt und deswegen mit den traditionellen militärischen Mitteln bekämpft werden kann", sagt Czempiel. "Hinzu kommt, dass wir über sehr viele dieser traditionellen Mittel verfügen. Und deswegen liegt es natürlich nahe, diese Mittel auch einzusetzen, egal ob sie zweckmäßig sind oder nicht."

Bomben auf Afghanistan. Wer sie hinterfragt, gilt als Anti-Amerikanist. Kampf gegen Bin Laden, auch wenn die Öffentlichkeit auf eindeutige Beweise noch warten muss. Stattdessen Geheimdienstinformationen. Denen glauben, die bei der Verhinderung des Anschlags so jämmerlich versagt haben.

"Ich habe große Zweifel, ob ein Geheimdienst, der bis zur Tat überhaupt nichts gewusst hat und nach der Tat sofort weiß, dass es Bin Laden ist, ob das überhaupt die wirkliche Spur ist. Sicher steckt der auch mit drin, aber dass es die entscheidende Spur ist, wage ich zu bezweifeln", sagt Andreas von Bülow.

Bush aber will Bin Laden tot oder lebendig: "Wanted - dead or alive."

Der Feind ist ausgemacht, hat Gesicht und Namen. Und neue Freunde sind auch schon gefunden: die afghanische Nordallianz. Wer fragt schon, was das für ein Haufen ist, wie viele Tote auf ihr Konto gehen. Heute jedenfalls taugen sie im Kampf gegen das Böse - und morgen?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.10.2001 | 20:15 Uhr

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