Sendedatum: 19.07.2001 21:00 Uhr

Als Kind vergewaltigt - Für ihren Schmerz gibt es kein Geld

von Bericht: Andreas Lange

 

Dass die meisten sexuellen Übergriffe in der Familie oder im engen Bekanntenkreis passieren, das hat Kanzler Schröder in seinen Worten eben auch nicht bedacht. Kinderschänder - "wegsperren für immer" - das ist in solchen Fällen zu einfach gesagt, denn diesen Opfern fällt es besonders schwer, ihre Väter, Onkels oder Freunde der Familie anzuzeigen. Die Täter kommen deshalb meist ungestraft davon. Und - wenn es die Opfer dennoch schaffen, sich den Schrecken ihrer Vergangenheit zu stellen, dann ist es meist zu spät.

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In ihrem Familienalbum sind alle Fotos vom Vater herausgerissen und ersetzt. Als Miriam neun Jahre alt war, vergewaltigte er sie das erste Mal, danach fast täglich. Die Mutter schwieg und schaute weg. Selbst im Kinderzimmer war Miriam vor ihrem Vater nicht sicher.

Miriam D. erinnert sich: "Ja, und dann hat er die Tür aufgedrückt, und dann war er drin. Dann ist er über mich hergefallen, hat mir die Klamotten vom Leib gerissen, mich auf den Fußboden geschmissen, hat seine Hose bis zu den Knien runtergezogen, und dann hat er mich missbraucht. Hinterher hat er gesagt: Du hast nur das gekriegt, was du verdient hast, und wehe, du machst den Mund auf, dann passiert was."

Über viele Jahre ging das so, bis sie mit 18 endlich aus dem Elternhaus flüchtete. Miriam verdrängte die Erinnerungen. Sie heiratete, bekam selbst zwei Kinder. Das Leben schien normal zu werden. Doch die Vergangenheit holte sie wieder ein: "Ich kriegte Atemnot, Ohnmachtsanfälle habe ich gehabt so drei Mal die Woche, Übelkeit, Erbrechen, Magenbeschwerden, Migräne - das alles zusammen. Ja, und dann hat mein damaliger Hausarzt gesagt, ich würde irgendwie was verdrängen, ich sollte mal eine Therapie machen."

Erst dann fing sie langsam an, sich daran zu erinnern, was passiert war. Die Schrecken der Kindheit kamen hoch und mit ihnen die Wut. Miriam ging zum Rechtsanwalt. Gemeinsam versuchten sie die Taten zu rekonstruieren, um den Vater zu verklagen - über zwanzig Jahre nach der Vergewaltigung.

Der Rechtsanwalt Frank Egermann erklärt: "Bei ihr würde ich das so sagen, dass sie sicherlich immer wieder einzelne Bilder von diesen damaligen Erlebnissen hatte, aber dass es lange Zeit dauerte, bis wir zur Polizei gehen konnten, eine komplette Aussage machen konnten, dass sie wirklich zusammenhangsmäßig und zeitlich geordnet das Geschehene dort erzählten konnte."

Dann endlich kam es zum Prozess. Nach vier für Miriam qualvollen Gerichtsterminen gestand der Vater einen Teil der Taten. Aber er bekam nur zwei Jahre - auf Bewährung, auch weil die Ereignisse schon so lange her waren und die einzige Zeugin, ihre Mutter, weiterhin schwieg.

Die Konfrontation mit der Vergangenheit und die Folgen. Miriam verlor mit Mitte dreißig plötzlich all ihre Zähne. Heute ist sie schwerbehindert und bekommt eine Rente vom Staat. Doch ihr Vater, der an allem schuld ist, braucht keinen Pfennig zu bezahlen, obwohl er zum Beispiel ein millionenschweres Schiff besitzt. Eine Klage auf Entschädigung wurde abgelehnt.

Miriam D.: "Hab' ich auch gedacht, erst nimmt er dich und macht dir das Leben kaputt, und er wird dazu noch belohnt. Ich krieg' zwar Rente, aber trotzdem, ich denke mal, dadurch, dass er kein Schmerzensgeld zahlen musste, hat er sich ins Fäustchen gelacht."

Ihr Anspruch auf Entschädigung war verjährt. Opfer von Vergewaltigungen durch die Eltern haben ab der Volljährigkeit nur drei Jahre Zeit, zivilrechtlich zu klagen. Doch das machen in diesem Alter die wenigsten.

Egermann: "Diese Menschen sind oft dermaßen beziehungsgestört und ihrer ganzen Persönlichkeit von den Tätern langfristig vernichtet, kann man sagen, dass sie überhaupt nicht dazu in der Lage sind, zu wissen, was sie wollen. Sie brauchen unheimlich viel Zeit, um überhaupt erst mal gesagt zu bekommen, was sie wollen könnten, um dann herauszubekommen, was dabei ihr eigener Anteil ist."

Hinzu kommen die engen Bindungen der Kinder an ihre Eltern, auch noch im Erwachsenenalter. Und so nutzen die Täter die Schwäche und die Scham ihrer Opfer - oft ein Leben lang.

Im Bundesministerium sitzen die, die den Opfern helfen könnten. Doch im dort sieht man keinen Handlungsbedarf, den Opfern mehr als drei Jahre Zeit zu geben.

Thomas Weber vom Bundesministerium der Justiz zieht einen pikanten Vergleich: "Das ist die allgemeine Verjährungsfrist im Haftungsrecht, wie sie zum Beispiel auch bei Verkehrsunfällen gilt. Dieses hat sich bewährt, und dieses dient der Sicherheit des Rechtsverkehrs."

Rechtsanwalt Egermann argumentiert anders: "Mein Argument dagegen ist, dass ich sage, dass unsere Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen und das Grundgesetz, Artikel 6, uns auch die Pflicht gibt, so etwas zu tun, und auch die Möglichkeit gibt, für Kinder eine Ausnahme zuzulassen, um ihnen eben überhaupt zu ermöglichen, zivilrechtliche Ansprüche geltend zu machen."

Auch, wenn diese Kinder groß geworden sind. Und so haben die Opfer, die von ihren Eltern vergewaltigt werden, bei der Entschädigung kaum eine Chance. Was zurück bleibt, ist Hass.

Miriam D. hatte einen Traum: "Vor ein paar Wochen habe ich geträumt, ich habe ihn umgebracht. Da habe ich alles gesehen. Das ganze Zimmer war voller Blut, und ich stand über ihn gebeugt, mit einem Messer in der Hand, und hab' ihn abgestochen. Danach habe ich mich irgendwie befreit gefühlt. Aber leider war es nicht Wirklichkeit, war nur ein Traum."

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 19.07.2001 | 21:00 Uhr

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