Zivilcourage - Vom Helfer zum Opfer
Anmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Aber jetzt, jetzt sollen wir alle schön mutig und stark sein, verlangen unsere Politiker parteiübergreifend. Nicht wegsehen und -hören, wenn rechte Schläger unter dem Hakenkreuz marschieren, wenn dumpfe Glatzköpfe Ausländer bedrohen, wenn der Arbeitskollege dumme Sprüche macht. Sich entgegenstellen, im Idealfall die Opfer schützen - Zivilcourage zeigen. Ein wohlfeiler Appell, der Ruf nach Bürgersinn, nach Verteidigung der zivilen Gesellschaft und ihrer Regeln. Es sind wenige, aber es gibt sie schon lange: die Menschen, die sich dazwischenstellen, die nicht kapitulieren, die Mut haben. Und der ist auch nötig, denn denjenigen, die tatsächlich Zivilcourage bewiesen haben, erging es oft ziemlich schlecht.
Ilka Brecht und Andreas Cichowitz über Opfer und über Menschen, die das Richtige taten.
KOMMENTAR:
Orazio Giamblanco ist Italiener. Zwei Skinheads reichte das, um sein Leben zu zerstören. Vor viel Jahren war er Bauarbeiter in Brandenburg, als sie ihn überfielen. Einer schlug ihn mit einem Baseballschläger. Seitdem sucht er seinen Weg zurück ins Leben, Zentimeter für Zentimeter. Der brutale Schlag auf den Kopf hat auch sein Sprechvermögen zerstört. Dass Orazio Giamblanco heute überhaupt wieder etwas sagen kann, ist seinem Überlebenswillen zu verdanken.
0-Ton
ORAZIO GIAMBLANCO:
(Nazi-Opfer)
"Ich habe keine Kraft, bin immer so schlapp. Hab' manchmal so ein bisschen überhaupt keine Lust. Aber du musst weitermachen. Wenn du stehen bleibst, macht das Probleme. Du musst immer kämpfen."
KOMMENTAR:
Seine Lebensgefährtin Angelica Berdes steht ihm zur Seite, kümmert sich um ihn, den ganzen Tag. Noch nie hat sich ein Politiker für sein Schicksal interessiert. Aber dass manchmal ganz normale Leute anrufen und nach ihm fragen, das gibt ihm Mut.
Dass sie den Opfern Mut geben, bleibt der einzige Lohn der Helfer. Andrea Goldberg packt ihre Sachen nach sechs Wochen Klinikaufenthalt. Vor zwei Jahren beobachtete die Zugbegleiterin, wie zwei Skin-Mädchen einen jungen Russen angriffen, und stellte sich dazwischen. Dann wurde sie verprügelt. Die Folge: Blutergüsse am ganzen Körper, ihre Wirbelsäule wurde verletzt, und später bekam sie schlimme Ekzeme an den Händen und Alpträume. Deshalb jetzt die Therapie.
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ANDREA GOLDBERG:
(Zugbegleiterin)
"Ich hab' geträumt, ich bin auf der Arbeit, und es kommen zwanzig Mann und umkreisen mich, und ich kam nicht wieder raus. Oder ich wurde verfolgt und musste um mein Leben rennen und rennen und rennen, und es nahm kein Ende - und bin aufgewacht. So war es immer, in diese Richtung. Oder ich hab' auch geträumt, ich bin mit dem Zug gefahren und ausgestiegen und weggerannt, weil ich es nicht mehr packen konnte. Das war eben dann schon ganz schön schlimm."
KOMMENTAR:
Für ihr Eingreifen bedankte sich Ministerpräsident Manfred Stolpe damals ganz herzlich. Seither hat kein Politiker mehr nach ihr gefragt. Krank gemacht hat Andrea Goldberg aber besonders die Haltung ihrer Kollegen von der Bahn. Die Mehrheit, die lieber wegschaut und nichts tut, mobbte gegen die couragierte Ausnahmefrau. So wurde sie für ihren Mut am Ende noch bestraft.
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ANDREA GOLDBERG:
"Sie haben zum Teil überhaupt nicht reagiert, also sie haben mich überhaupt nicht angesprochen. Und wenn ich eben angesprochen wurde, dann war es eben: Naja, was mischst du dich ein, bist du selber schuld, sich da wichtig tun, da muss man eben sie Konsequenzen tragen. Und es kamen auch Sprüche, als ich dann wieder gesund war, wie: Andrea, da am Bahnsteig steht ein Neger, willst du den nicht umsonst mitfahren lassen, du bist doch so ausländerfreundlich."
KOMMENTAR:
Ein Lehrer, der sich auch bei Gefahr vor seine Klasse stellt: Lothar Bade, Schulrektor im pfälzischen Herxheim. Vor zwei Jahren war er mit seinen Schülern auf Klassenfahrt in Erfurt. Mitten in der Stadt wurden sie von einer Horde Skinheads abgepasst. Als der Lehrer schützend dazwischenging, wurde er brutal verprügelt. Seine Courage, seine Haltung als Lehrer auch Vorbild sein zu wollen, hat ihm den Dank und Respekt seiner Schüler, aber auch schlimme Verletzungen eingebracht.
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LOTHAR BADE:
(Schulrektor)
"Ich habe also acht Zähne verloren, es waren zwei Rippen angebrochen, ich hatte Prellungen am Auge und Nierenprellungen, am Schienbein Blutergüsse. Es war schon also so, dass ich am nächsten Tag mich kaum bewegen konnte. Ich hatte auch finanzielle Verluste einfach, ich musste einige tausend Mark für den Zahnarzt drauflegen. Halte ich im Prinzip für banal, aber trotzdem, es ist seltsam, dass man durch so eine Situation auch noch bezahlt eigentlich."
KOMMENTAR:
Aber nicht nur deshalb fühlt Lothar Bade sich allein gelassen: Die Schulbehörde hat ihn auch nie unterstützt, wollte schnell die Akte schließen. Wichtiger als Zivilcourage: die Bürokratie.
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LOTHAR BADE:
"Wann habe ich den Dienstunfall gemeldet, war viel wichtiger als die Frage: Was war eigentlich das für ein Gefühl, als Lehrer mit dreißig Kindern Verantwortung in so einer Situation zu übernehmen. Das war für mich viel wichtiger, als einen Bericht zu schreiben oder einen Dienstunfall zu melden."
KOMMENTAR
So hat auch Lothar Bade die Erfahrung gemacht: Alle fordern Zivilcourage, aber kaum einer fördert sie.
Mit dem Farbeimer gegen die Nazis. Wo andere die Augen zumachen, übermalt Irmela Schramm seit 15 Jahren Hakenkreuze und rassistische Sprüche. Regelmäßig durchstreift sie Berlin, überprüft Wände, Masten und Stromkästen. Heute ist sie in Rudow, einem westlichen Stadtteil, und wieder wie die fündig. Irmela Schramm erhielt für ihr Engagement die Bundesverdienstmedaille, ihre Büste steht auf der Expo in Hannover, das "Band für Mut und Verständigung" bekam sie auch, aber die Farbe zahlt ihr keiner. Und von den Anwohnern wird sie häufig angefeindet.
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IRMALA SCHRAMM:
"Die Leute reagieren sehr unterschiedlich, von gleichgültig bis genervt über auch aggressiv. Also wenn mir zum Beispiel eine Anwohnerin sagte, sie könne gut mit dem Schriftzug 'Ausländer raus' leben, dann ist das für mich schon ganz schlimm, und ich sage eben, dass ich damit nicht so leben kann und auch nicht so damit leben will."
KOMMENTAR:
Die Nazi-Symbole sind für sie ein Alarmsignal. Den Rassismus hinter den sauberen Fassaden der ganz normalen Leute aber findet sie fast noch schlimmer. Und der Hass gegen Ausländer mündet oft in Hass gegen die Helfer. Sogar in die Gaskammer würde sie schon gewünscht. Doch Irmela Schramm ist hartnäckig. Sie hat eine Krebsoperation und Angriffe von Neo-Nazis überlebt - sie will weitermachen.
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IRMELA SCHRAMM:
"Ich mache das jetzt schon 15 Jahre, und ich werde es auch 16 Jahre machen, solange wie die Nazis schmieren. Und ich hoffe, dass die Kraft noch so lange erhalten bleibt."
KOMMENTAR:
Sie weiß, sie ist Einzelkämpferin, andere haben schon längst aufgegeben, weil sie einen hohen Preis zahlen mussten für ihre Zivilcourage, weil Helfer oft selbst zu Opfern werden.
Abmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Zivilcourage fordern, sie aber nicht fördern - unter diesen Umständen ist es schwer, Menschen zum Eingreifen zu ermuntern gegen Ausländerfeindlichkeit, gegen Gewalt.
