Sendedatum: 02.11.2000 21:45 Uhr

Teuer und überflüssig - Milliardenverschwendung bei Medikamenten

von Thomas Berbner, Andreas Cichowicz

Deutschland im Herbst. Die Blätter fallen, und die Ärzte gehen auf die Straße. Diese Mischung aus Beerdigungsgesellschaft und Karnevalsumzug ist die Elite der Berliner Ärzteschaft. Die Halbgötter in Weiß ganz in Schwarz. Da wundert sich der arbeitende Beitragszahler.

VIDEO: Milliardenverschwendung bei Medikamenten (7 Min)

Der Hausarzt Dr. Fechteler führt in diesen Zeiten mit seinen Patienten sogenannte Informationsgespräche über das Arzneimittelbudget. Dabei nutzt er seine ärztliche Autorität, um die Patienten massiv zu verunsichern. Das Budget, so versteht Patient Fürst, verhindert die Verschreibung hochwertiger Medikamente.

Dr. Fechteler erkärt dem Patienten, dass es den Ärzten mit ihren immer schmaler werdenden Einkommen nicht gerade leicht gemacht wird. Und das wollen die Ärzte nicht länger hinnehmen, denn das ist wirklich ein untragbarer Zustand. Und jeder Patient hätte ein Recht auf Aufklärung. Er überreicht dem Patienten eine Broschüre, worin das Wichtigste noch mal schriftlich zusammengefasst ist, damit diese Täuschung der Patienten und der Wähler und der Versicherten endlich aufhört.

Das Fazit der Informationsbroschüre: Das Arzneimittelbudget muss weg.

Hermann Schulte-Sasse vom Bundesgesundheitsministerium findet dieses Verhalten ziemlich bösartig, weil es die Patienten, die ja unmittelbar Betroffene sind und die das, was das Problem, um das es hier geht, gar nicht durchschauen können, instrumentalisiert. Die Patienten müssen mit dem Eindruck aus der Praxis herausgehen, dass die Finanzierung der für sie notwendigen Arzneimittel nicht mehr gesichert ist und der Doktor ihnen deshalb die Arzneimittel nicht mehr verordnen kann. Das ist schlichtweg falsch.

Die gesetzlichen Krankenkassen stellten im vergangenen Jahr rund 38 Milliarden Mark für Medikamente zur Verfügung. Und das reicht, so führende Arzneimittelexperten, für eine gute und umfassende Versorgung der Versicherten.

Universitätsklinik Heidelberg. Professor Schwabe ist Herausgeber des renommierten Arzneimittelreports und berät auch den Deutschen Bundestag. Nach seinen Berechnungen verschreiben Kassenärzte noch immer zu wenige preisgünstige Nachahmepräparate, sogenannte Generika, aber vor allem: Sie verschreiben zu viele Medikamente, deren Wirkung umstritten ist. Zum Beispiel Thioctacid. Dieses und wirkstoffgleiche Medikamente gegen Nervenstörungen sind in ihrer Wirkung umstritten. Trotzdem wurden diese Mittel im vergangenen Jahr für 280 Millionen Mark verschrieben.

Prof. Ulrich Schwabe, Pharmakologe an der Universität Heidelberg, erläutert, dass bei diesen Mitteln ein sehr bekannter Wirkstoff die Liponsäure sei, die seit vielen Jahren in Deutschland angewendet wird, hauptsächlich aufgrund von älteren, kleineren Studien, die bei Injektionen Hinweise auf eine Wirksamkeit ergeben haben; bei der Anwendung als Tablette, die hauptsächlich in der Praxis durchgeführt wird, hat aber jetzt eine größere Studie gezeigt, dass kein Unterschied zu Placebo-Präparaten besteht, das heißt also, dass die Wirksamkeit hier nicht besser ist als von Scheinmedikamenten.

Zum Beispiel Tebonin. Dieses Extrakt aus Gingkoblättern ist wie alle Medikamente dieser Wirkstoffgruppe umstritten. Trotzdem verordneten deutsche Kassenärzte diese Arzneimittel im Wert von 440 Millionen Mark.

Prof. Schwabe erzählt, dass er Tebonin vor einigen Monaten in Amerika tatsächlich in einer Apotheke gekauft habe, Gingko-Beloba-Extrakt, und das sei in Amerika nur als ein Nahrungsergänzungsmittel zugelassen, aber nicht als Arzneimittel. Und auf der Packung sei auch extra vermerkt, dass es nicht für die Heilung von Krankheiten geeignet ist.

Ein anderes Beispiel ist ACC. Präparate mit Acetylcystein werden noch immer bei Bronchitis als Schleimlöser verordnet. Obwohl ihre Wirkung umstritten ist, wurden diese Mittel im letzten Jahr für 530 Millionen Mark verschrieben.

Nach Meinung von Prof. Schwabe haben solche Mittel praktisch nur Placebo-Effekte, das heißt, wenn man Scheinmedikamente testet, haben sie auch bei diesen Erkrankungen immer eine kleine Wirkung, aber mehr bringe auch dieser zusätzliche chemische Stoff nicht.

Die Hersteller der von Professor Schwabe kritisierten Mittel bestreiten dies und verweisen auf umfangreiche Studien, die die Wirksamkeit ihrer Medikamente belegten. Für Professor Schwabe nichts Neues. Er hat errechnet, wie groß das Ausmaß der Verschwendung bei der Verschreibung von Arzneimitteln ist.

Nach seinen Berechnungen seien in dem System noch erhebliche Reserven, die für das Jahr 1999 8,2 Milliarden Mark betragen.

Rund 20 Prozent der Arzneiverordnungskosten, so Prof. Schwabe, könnten in Deutschland eingespart werden. Er glaubt nicht, dass das von einem Jahr auf das andere möglich sei, vielmehr müsse es ein Anpassungsprozess über mehrere Jahre sein. Aber das würde zur Lösung der derzeitigen Probleme auch sicher reichen.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Köln. Ihr Vorsitzender, Manfred Richter-Reichhelm ist zugleich Vorsitzender der Berliner Kassenärzte und damit mit verantwortlich für die Überziehung des Budgets in der Hauptstadt. Große Einsicht in die errechneten Einsparpotentiale kann man da nicht erwarten.

Richter-Reichhelm behauptet, dass die Milliardenhöhe von rund acht viel zu hoch sei. Optimistisch geschätzt hatte die Kassenärztliche Bundesvereinigung gehofft, im Generika-Bereich noch mal eine Milliarde hereinholen zu können, mehr sei nicht drin.

Kranzniederlegung an der Berliner Charité. Allein die Kassenärzte der Bundeshauptstadt haben nach Analysen der AOK im letzten Jahr umstrittene Arzneimittel im Wert von 165 Millionen Mark verschrieben. Die von der AOK vorgelegten Zahlen des ersten Halbjahres 2000 sehen nicht viel besser aus. Eine traurige Bilanz. Was bei der Protestveranstaltung nicht angesprochen wird: Berlin hat mit die höchste Ärztedichte der ganzen Republik.

Statt alles zu tun, das Budget einzuhalten, legen die Berliner Kassenärzte lieber Kränze nieder. Der Sprecher des Aktionsbündnisses, ein niedergelassener Augenarzt, hält die Überschreitung des Budgets übrigens für ein eher kleines Problem - alles nur eine Frage der Perspektive.

Friedrich Kruse von der Facharztvereinigung in Berlin sieht das Problem darin, dass sowieso zuviel Luft verbraucht werde durch die Leute. Überhaupt, welchen Mengen von unnötigen Belastungen die Umwelt ausgesetzt sei. Überall gebe es Verschwendung. Die Verschwendung im Arzneimittelbudget sei im Vergleich mit der globalen Verschwendung von Energie und überhaupt von allem eher marginal.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen, die ihre Mitglieder, also die Ärzte, beraten, sie schulen und dann auch noch regelmäßige Kontrollen durchführen, mit ihren Budgets nicht nur auskommen, sondern diese auch noch deutlich unterschreiten. Zum Beispiel in Südbaden und in Hessen ist das der Fall. Und den Patienten geht es dort offensichtlich auch nicht schlechter.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.11.2000 | 21:45 Uhr

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