Kampfhundopfer Volkan - Protokoll eines vorhersehbaren Todes
Anmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Zehn Jahre, zehn Jahre wurde über eine bundeseinheitliche Kampfhundeverordnung diskutiert. Aber es musste erst ein Kind qualvoll sterben, um heftige politische Reaktionen auszulösen. Vor knapp drei Wochen wurde hier in Hamburg der sechsjährige Volkan von einem Kampfhund totgebissen. Erst dann ging alles ganz schnell. Telefonkonferenz der Innenminister, Kabinettsbesprechung, Aktuelle Stunde im Bundestag - in Rekordzeit gab es neue Verordnungen in Bund und Ländern. Diese Wendigkeit und Entschlusskraft ist einmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte, und auf anderen Politikfeldern vermisst man sie manchmal schmerzlich. Im Kampf gegen Kampfhunde gab es plötzlich große Einigkeit quer durch alle Parteien. In der Hektik hat man vielleicht den Blick für einige Details verloren. Denn so wie es aussieht, könnte der kleine Junge noch leben, wenn Bürokraten und Politiker ihre Arbeit gewissenhaft gemacht und wenn Nachbarn und Bekannte sich nicht im Wegsehen geübt hätten.
Andreas Lange und Anja Reschke mit dem Protokoll eines vorhersehbaren Todes.
KOMMENTAR:
Der kleine Volkan - das Opfer eines Kampfhundes und untätiger Bürokraten. Der Pitbull Zeus, er konnte töten, weil alle von seiner Gefährlichkeit wussten, aber nichts unternahmen. Und der Hundebesitzer Ibrahim K. - er konnte seinen Kampfhund scharf machen, weil niemand ihn daran hinderte.
Ibrahim K. - er ist 23 Jahre alt und bei Polizei und Staatsanwaltschaft schon lange bekannt. 18. März ’96: Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. Ein halbes Jahr später wegen Widerstand und Beleidigung. Danach: Ermittlung wegen schweren Diebstahls. Eine Woche später: Wieder schwerer Diebstahl. Danach: Dreifacher Straßenraub. Eine weitere Anzeige: Gefährliche Körperverletzung. Und: Am 17. Mai ’97 eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Alle Verfahren werden eingestellt. Ibrahim K. wird als damals 19-jähriger nach dem Jugendstrafrecht behandelt. Er kann deshalb mit der Milde der Justiz rechnen.
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RÜDIGER BAGGER:
(Staatsanwaltschaft Hamburg)
"Beim Jugendlichen geht es in erster Linie darum, ihm die Chance zu eröffnen, sich wieder in diese Gesellschaft entsprechend einzufügen, und das ist in den Prozessen damals so gelaufen, das muss man ganz klar sagen."
INTERVIEWER:
"Und deswegen sind die Ermittlungen eingestellt worden?"
RÜDIGER BAGGER:
"Deswegen hat das Gericht nach durchgeführter Hauptverhandlung oder auch im schriftlichen Wege die Verfahren eingestellt."
KOMMENTAR:
Ibrahim K. kann also ungestört weitermachen. Er schmeißt seine Lehre und legt sich diesen Kampfhund zu, den Pitbull Zeus. Der verschafft ihm immerhin Anerkennung bei seinen Freunden.
Gerade mal sieben Monate alt ist der Kampfhund, als er hier im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel einen Schäferhund und dessen Besitzerin anfällt und sie beide verletzt. Deshalb wird Ibrahim K. am 11. April ’98 zum ersten Mal verurteilt, wegen Körperverletzung. Die Strafe: 1.600 Mark. Über das Schicksal des Hundes aber muss das zuständige Ordnungsamt entscheiden.
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MICHAEL LINDAU:
(Bezirksamt Harburg)
"Wir sind da so tätig geworden wie nach jedem Beißvorfall, so wie das im Amtsdeutsch heißt, dass wir zunächst einmal den Halter mit seinem Hund beim Amtstierarzt haben vorführen lassen. Das hat er auch gemacht."
KOMMENTAR:
Der Amtstierarzt:
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DR. BERNHARD SCHMIDT:
(Amtstierarzt)
"Aus den Unterlagen ist zu entnehmen, dass ich ihn damals als nicht bissig beurteilt habe, aber scharf gegenüber anderen Rüden. Und daraufhin haben wir vorgeschlagen, dass also der Hund einen Leinenzwang erhält."
KOMMENTAR:
Der zuständige Beamte:
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MICHAEL LINDAU:
"Damit ist der betroffene Halter verpflichtet, den Hund an der Leine zu führen."
KOMMENTAR:
Der Polizeisprecher:
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REINHARD FALLAK:
(Polizei Hamburg)
"Die Durchsetzung dieser Maßnahme ist allerdings vom Ordnungsamt nicht überprüft worden und auch nicht von der Polizei."
KOMMENTAR:
Keiner kontrolliert, Ibrahim K. kann machen, was er will. Alle sehen zu, wie er sich über die behördlichen Auflagen hinwegsetzt und mit seinem Pitbull Zeus durch das Viertel streift.
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NACHBARIN:
"Der ist hier ohne Maulkorb gelaufen, egal wie, und immer ohne Leine. Was sollen wir denn da - also da konnte man nicht hingehen, man musste auch Angst haben, dass einem selber was passiert."
KOMMENTAR:
Sogar hier an der Grundschule richtet Ibrahim K. seinen Kampfhund ab, genau da, wo später der kleine Volkan sterben muss.
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NACHBAR:
(Hier, auf dieser Wiese, wo wir stehen, ist der Hund des öfteren trainiert worden, das konnte ich gut sehen, weil ich immer montags und freitags zum Sport gehe, in diese nebenliegende Halle. Und da stand der Mann immer hier, so beide Hände vor gehabt, irgendwas dazwischen, was es war, konnte ich nicht sehen. Und der Hund sprang da immer und war am knurren."
KOMMENTAR:
Nachbarn beobachten, wie Ibrahim K. seinen Kampfhund Zeus auch auf den Spielplätzen scharf macht. Die zerbissenen Schaukeln werden regelmäßig vom zuständigen Gartenbauamt ausgetauscht. Der vorgesetzte Beamte will davon nichts gewusst haben.
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MICHAEL LINDAU:
(Bezirksamt Harburg)
"Also das ist mir so nicht bekannt."
INTERVIEWER:
"Die Behörde gehört zu Ihrem Bezirk, zu Ihrem Bereich."
MICHAEL LINDAU:
"Ja, natürlich, aber trotzdem kenne ich nicht die Informationen, alle Informationen, die in der Gartenbauabteilung vorhanden sind."
INTERVIEWER:
"Wir haben uns die Schaukeln angeguckt, die sind zerbissen - 50 Schaukeln in einem Jahr, das muss einem doch auffallen."
MICHAEL LINDAU:
"Es ist natürlich nicht Aufgabe der Gartenbauabteilung, jetzt auf Dinge zu achten, die im Grunde genommen gar nicht in deren Kompetenz fallen."
KOMMENTAR:
Der hilflose Versuch, zu vertuschen, was ganz Wilhelmsburg weiß: Diese Schaukeln werden von Kampfhunden wie Zeus zerbissen.
Wegsehen, nichts tun. Wieder kann Ibrahim K. mit seinem Kampfhund Zeus monatelang machen, was er will, bis er mit einer Pistole erwischt wird.
5. Juni, ’99 - Verstoß gegen das Waffengesetz. Ibrahim K. wird verurteilt, zu acht Monaten auf Bewährung.
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RÜDIGER BAGGER:
(Staatsanwaltschaft Hamburg)
"Das ist ein normaler Strafrahmen dann, wenn man die Waffe eben nur erworben und besessen hat, aber mit der Waffe selbst keine Straftat begangen hat, also auf jemand geschossen hat oder überhaupt irgendwo rumgeballert hat, wie man so schön sagt."
KOMMENTAR:
Ibrahim K. kann also weitermachen.
5. Juli ’99 - Anzeige wegen Drogenhandels und dann auch noch wegen Körperverletzung.
Und auch im Viertel ist Ibrahim K. weiter mit seinem Kampfhund aktiv. Doch anstatt etwas gegen die Bedrohung zu unternehmen, schauen lieber alle weg.
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NACHBAR:
"Da traut sich auch keiner was zu sagen."
INTERVIEWERIN:
"Wenn jeder weiß, dass hier auf dem Schulgelände die Kampfhunde trainiert werden, da hat nie jemand eingegriffen?"
NACHBAR:
"Nee, nee, nee."
INTERVIEWERIN:
"Sie haben auch nie versucht, mal bei der Polizei Bescheid zu sagen oder so?"
NACHBAR:
"Nee, hab‘ ich nicht."
KOMMENTAR:
Im April dieses Jahres ist es wieder mal so weit. Der scharf gemachte Kampfhund Zeus beißt und verletzt einen Labradormischling. Sein Besitzer Ibrahim K. erhält daraufhin am 21. April eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.
Und wieder geht der Fall an das zuständige Amt. Doch dass der Pitbull schon einmal zugebissen hatte, vom Amtstierarzt untersucht wurde und eigentlich ein Leinenzwang besteht, ist hier unbekannt.
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MICHAEL LINDAU:
(Bezirksamt Harburg)
"Ja, das ist leider auf einen Eingabefehler im Computer zurückzuführen gewesen. Der Fall war dort enthalten im Computer und hätte eigentlich, indem man den zweiten Fall nun eingibt, auswerfen müssen, dass es schon mal einen Vorfall gegeben hatte. Leider hat man den Halter einmal falsch eingegeben gehabt."
KOMMENTAR:
Und so fangen die Beamten wieder von vorne an und schicken Ibrahim K. einen Brief mit der Aufforderung, seinen Hund beim Amtstierarzt vorzuführen.
Währenddessen beißt Kampfhund Zeus erneut zu, diesmal einen Beagle. Ibrahim K. wird deshalb am 26. April wieder wegen Sachbeschädigung angezeigt. Die Behörde hat inzwischen den Brief an Ibrahim K. zurückbekommen, weil er nicht zustellbar war. Die Beamten verhängen einen Maulkorb- und Leinenzwang und schicken erneut einen Brief an Ibrahim K. Wieder ohne Erfolg. Erklärungsversuch:
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MICHAEL LINDAU:
"Wir haben ihn nicht erreicht, weil der Briefträger bei förmlichen Zustellungen genau darauf achten muss, dass er tatsächlich auch an den Betroffenen zustellt. Das konnte er hier nicht, weil er weder bei der Meldeanschrift ihn feststellen konnte noch bei der Anschrift, wo wir glaubten, dass er sich aufhält."
KOMMENTAR:
Doch den Aufenthaltsort von Ibrahim K., genannt Ibo, kennt in Wilhelmsburg jedes Kind.
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JUNGE:
"Da oben wohnt er."
INTERVIEWER:
"Wer?"
JUNGE:
"Ibo."
KOMMENTAR:
Nur drei Tage später beißt Zeus schon wieder zu, diesmal ist ein Schäferhund das Opfer. So wird Ibrahim K. am 29. April 2000 zum dritten Mal innerhalb von acht Tagen wegen Sachbeschädigung angezeigt.
Spätestens jetzt hätte die Behörde den Pitbull Zeus einziehen müssen.
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MICHAEL LINDAU:
(Bezirksamt Harburg)
"Das ist richtig, dass es diese Möglichkeit auch gab. Ein entsprechendes Verfahren hatte unser Wirtschafts- und Ordnungsamt in Wilhelmsburg ja auch eingeleitet. Nur das war noch nicht zum Abschluss gekommen, weil wir die Ermittlungsakten von der Staatsanwaltschaft noch nicht bekommen hatten."
INTERVIEWER:
"Aber Sie durften doch kein Verfahren einleiten, sondern Sie mussten doch Gefahren abwehren."
MICHAEL LINDAU:
"Wenn wir hier eine Wegnahmeanordnung, eine Untersagungsverfügung erlassen hätten, sofort ausgesprochen hätten: Du darfst den Hund nicht mehr halten, er ist abzugeben, hätten wir genauso erst einmal feststellen müssen, wo denn dieser Halter mit seinem Hund sich überhaupt aufhält."
INTERVIEWER:
Also ist der kleine Volkan deswegen totgebissen worden, weil nicht genug Informationen da waren?"
MICHAEL LINDAU:
"Das kann man so sehen, ja."
KOMMENTAR:
So musste der kleine Volkan sterben. "Nicht bissig gegenüber Menschen", das hatte der Amtstierarzt dem Pitbull Zeus noch vor zwei Jahren bescheinigt.
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DR. BERNHARD SCHMIDT:
(Amtstierarzt)
"Das Gutachten erstreckt sich ja nur auf den, sag‘ ich, momentanen, auf den momentanen Zustand, in dem sich der Hund hier im Augenblick verhält. Was der also macht, wenn er fünf Minuten später draußen vor der Tür ist, das kann ich also nicht beurteilen."
KOMMENTAR:
Der Tod des kleinen Volkan war also vermeidbar. Denn alle wußten von der tödlichen Gefahr, die von dieser gezüchteten Kampfmaschine und ihrem Halter ausging. Doch zugeben will das niemand.
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DR. BERNHARD SCHMIDT:
(Amtstierarzt)
"Wir haben uns überhaupt keine Vorwürfe zu machen."
MICHAEL LINDAU:
(Bezirksamt Harburg)
"Man kann zum Glück sagen, dass sich die Mitarbeiter keinen Vorwurf machen müssen."
RÜDIGER BAGGER:
(Staatsanwaltschaft Hamburg)
"Und die Staatsanwaltschaft braucht sich in diesem Zusammenhang nichts vorwerfen zu lassen."
REINHARD FALLAK:
(Polizei Hamburg)
"Die Polizei macht sich in der Form eigentlich keine Vorwürfe."
Abmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Offenbar hat sich hier niemand auch nur irgendetwas vorzuwerfen. Am Ende war der kleine Volkan wohl auch noch selber Schuld. Immerhin ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft gegen das zuständige Wirtschafts- und Ordnungsamt wegen fahrlässiger Tötung.