Tödliche Fehler bei der Vorsorge - Zu viele Frauen sterben an Brustkrebs
Anmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Guten Abend und willkommen zur neuen Ausgabe von PANORAMA.
Es ist der Alptraum für jede Frau, auch wenn der Arzt es so schonend wie möglich beibringt. Diagnose Brustkrebs. Ihn erleben in Deutschland rund 45.000 Frauen Jahr für Jahr, und für 18.000 von ihnen ist es ein Todesurteil. Eigentlich müßten diese Zahlen und Fakten doch alarmierend sein, müßten Ärzte, Krankenkassen, Behörden und unsere Politiker dazu bringen, diese Epidemie organisatorisch wie medizinisch zu bewältigen. Aber getan wird viel zu wenig. Jede dritte Frau, die in den vergangenen Jahren an Brustkrebs gestorben ist, könnte noch leben, wenn früher, schneller und effizienter gehandelt worden wäre.
Über unglaubliche Zustände in Deutschland und den Frauentod Nr. 1 berichten Eva Altmann und Edith Heitkämper.
KOMMENTAR:
Das massieren tut Roswitha Dollny gut. Ohne schwillt ihr Arm an, wird dick wie ein Elefantenbein und schmerzt, seit ihrer Operation vor zwei Jahren, als ein Dutzend Lymphknoten am Arm rausgenommen wurden. Die waren befallen von Krebs, dessen Herd in der Brust saß - unerkannt, obwohl sie regelmäßig mammographiert wurde, auch 1995 und 96.
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ROSWITHA DOLLNY:
"97 habe ich den Arzt gewechselt. Es wurde eine Mammographie gemacht, auf der Brustkrebs festgestellt wurde. Daraufhin zog mein Frauenarzt die Bilder von 96 hinzu und war erschüttert, daß man den Brustkrebs nicht erkannt hatte."
KOMMENTAR:
Daß schon der erste Arzt den Krebs hätte sehen müssen, haben Gutachter inzwischen bestätigt. Roswitha Dollny mußte ins Krankenhaus. Es folgten Krebsoperation, ständige Angst und Chemotherapie, unter der sie sehr litt.
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ROSWITHA DOLLNY:
"Bei mir war das so gewesen, daß ich Gliederschmerzen hatte, Wadenkrämpfe, Mundschleimhautentzündung, Zahnfleischbluten. Die Kopfhaut tat mir wahnsinnig weh. Ja, und daß einen diese Übelkeit furchtbar fertiggemacht hat."
KOMMENTAR:
Das hätte ihr erspart werden können, meint ihr Anwalt. Schwere Zeiten, damals und auch jetzt noch. Hinzu kommt: Roswitha Dollnys wahrscheinliche Lebenserwartung ist gesunken, mit jedem Tag, an dem der Krebs nicht erkannt wurde, ein bißchen mehr. Gegen den Röntgenarzt zieht sie jetzt vor Gericht.
Dabei ist das Röntgen der Brust, das Mammographieren, eine sinnvolle Methode, um Brustkrebs zu finden. Das Problem: Viele Ärzte, Frauenärzte wie Radiologen, können die Bilder nicht richtig interpretieren. Für ungeübte Augen ist der Krebs schwer zu erkennen, im frühen Stadium ein kleiner weißer Punkt.
Täglich sieht er, was seine Kollegen alles übersehen: Dr. Toni Birtel, Radiologe. Oft kommen Frauen mit Bildern aus anderen Praxen, um eine zweite Meinung zu hören, und viel zu oft ist die erste falsch.
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DR. TONI BIRTEL:
(Radiologe)
"Es kommt mit Sicherheit jede Woche vor. Ende des letzten Jahres gab es Phasen, da haben wir 20, 25 Frauen täglich mit kompletten Untersuchungen gesehen, bei denen wir eine zweite Meinung abgeben sollten, und sie sind fast alle operiert worden."
INTERVIEWERIN:
"Das heißt?"
DR. TONI BIRTEL:
"Das heißt, die Diagnose, die gestellt war von kontrollbedürftigen Dingen in der Brust, war falsch."
KOMMENTAR:
So wie bei dieser Röntgenaufnahme.
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DR. TONI BIRTEL:
(Radiologe)
"Das ist eine Frau, die kommt mit Bildern, die zwei Stunden alt sind, aus einer anderen Praxis, und die Kollegen haben ihr gesagt, sie hätte nichts. Und auf den Bildern ist eindeutig zu erkennen, daß praktisch alle Milchgangsysteme in der Brust voll Tumor sind. Wir hatten bereits an dieser Stelle hier einen Tumor von 2 cm und hier von 8 mm invasiv."
KOMMENTAR:
Die Brust der Frau mußte amputiert werden.
Ein anderer Fall:
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DR. TONI BIRTEL:
"Dieser Fall schildert das Schicksal einer vierzigjährigen Patientin, die sich zwischen dreißig Jahren und vierzig Jahren hat jährlich mammographieren lassen, weil sie fürchterliche Angst hatte, weil ihre Mutter mit 35 Jahren brustkrebserkrankt war. Sie brachte Bilder mit, die zeigten die Brust zehn Jahre lang in dieser Form normal. Wir haben sie dann mammographiert und fanden einen 4 cm großen Brustkrebs, und die Erklärung liegt darin, daß die Kollegen die ganzen zentralen Anteile bei der Bilderstellung gar nicht erfaßt hatten und damit den Tumor in seinem Wachstum jährlich immer abgeschnitten hatten."
INTERVIEWERIN:
"Was ist mit der Frau jetzt?"
DR. TONI BIRTEL:
"Die Frau ist schon gestorben."
KOMMENTAR:
Tödliche Fehler ignoranter Ärzte.
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DR. TONI BIRTEL:
"Wenn ich sehe, daß irgendwo ein systematischer Fehler drin ist, dann habe ich die Kollegen angerufen und habe ihnen das gesagt. Da bin ich immer nur beschimpft worden, und dann habe ich aufgehört, es zu machen. Sie empfinden es wahrscheinlich als arrogant, daß überhaupt jemand sagt, es würde was falsch sein. Und auf der anderen Seite ist natürlich ein erhebliches finanzielles Interesse dahinter."
INTERVIEWERIN:
"Welches?"
DR. TONI BIRTEL:
"Durch die Mammographien verdient man ja auch Geld."
KOMMENTAR:
Für jede durchgeführte Mammographie kassiert der entsprechende Arzt, unabhängig davon, ob er sie deuten kann. Nur wenige Ärzte sind so auf die weibliche Brust spezialisiert wie Birtel, geschweige denn aufs Mammographieren. Die Ausbildung ist mangelhaft, sagen Experten, eine Kontrolle der Ärzte gibt es nicht. Das weiß auch Gerd Glaeske, zuständig für medizinische Grundsatzfragen bei der Barmer Ersatzkasse.
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DR. GERD GLAESKE:
(Barmer Ersatzkasse)
"Wir haben zum Teil desolate Situation im Bereich der Qualitätssicherung bei Ärztinnen und Ärzten. Bei denen, wo die Qualitätssicherung fehlt, ist es meistens der Grund, daß sie zu wenig Mammographien pro Jahr machen, 800 bis 1.000 vielleicht, und wir haben kein zwingendes System, daß diese Ärztinnen und Ärzte sich mit kompetenten Kollegen zusammentun müssen, um letzten Endes die Mammographieaufnahme zu befunden. Das kann ein Grund sein, warum dann oftmals auch Fehldiagnosen gestellt werden und Nachuntersuchungen notwendig sind - übrigens in einer Häufigkeit, wie sie ansonsten in Europa nicht auftritt."
KOMMENTAR:
Ganz anders in den Niederlanden. Hier gibt es ein ausgefeiltes System der Brustkrebsfrüherkennung, genannt Screening. Jede Frau ab 50 wird hier regelmäßig zur Mammographie eingeladen. Die Bilder sehen sich ausgewiesene Spezialisten an, immer zwei, unabhängig voneinander. Alle beteiligten Ärzte müssen sich ständig weiterbilden und prüfen lassen, wie das gesamte beteiligte Personal. Täglich werden die Geräte gecheckt. Schweden hat das Screening schon seit zwei Jahrzehnten, Großbritannien screent seit Jahren, auch Finnland und Neuseeland sind weiter als wir.
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DR. GERD GLAESKE:
(Barmer Ersatzkasse)
"Man weiß, daß in solchen Ländern, in denen diese Screening-Maßnahme gut durchgeführt wird, etwa 30 Prozent der Todesraten gesenkt werden können."
KOMMENTAR:
Ihr hätte das Screening einiges erspart: Karin Sievert-Fischer. Als 51jährige ließ sie sich mammographieren, zur Vorsorge. Der Befund klang harmlos: Kalkeinlagerungen.
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KARIN SIEVERT-FISCHER:
"Der Radiologe hat gesagt, das ist harmlos, und das sind ein paar Kalkeinlagerungen, hat er mir gezeigt und so. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten, hat keinen pathologischen Wert, und Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, aber zur Sicherheit kommen Sie im halben Jahr noch mal. Ich ging dann nach einem halben Jahr ganz harmlos und arglos, um nichts zu befürchten, wieder hin. Und dann war ein Kollege des ersten Radiologen in der Praxis, der mich noch nicht kannte und den ich nicht kannte, und der zeigte mir auch das Bild und war ganz erschrocken und sagte: Sie haben Krebs, Sie müssen sofort ins Krankenhaus, müssen sich sofort operieren lassen, holen Sie sich sofort einen Termin, das ist ganz schlimm. Und ich fiel fast in Ohnmacht, buchstäblich, weil ich gedacht hatte, es ist eine Routinekontrolle wiederum, und der erste hat gesagt, es ist ja nichts Schlimmes und so weiter. Und nun hatte ich Krebs."
KOMMENTAR:
Der erste Arzt hätte den Krebs erkennen müssen, das hat inzwischen ein Gerichtsurteil bestätigt. Kein Trost für großes Leid, denn Karin Fischer hat eine Brust verloren. 18 cm ist die Narbe quer über ihren Brustkorb.
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KARIN SIEVERT-FISCHER:
"Ich bin absolut sicher, daß ich mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit keine Amputation erleiden hätte müssen, wenn der Radiologe beim ersten Mal aufgepaßt hätte und mich gleich hingeschickt hätte zur Gynäkologie."
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WILHELM FUNKE:
(Patientenanwalt)
"Der Fall der Patientin Frau Sievert-Fischer ist für uns kein Einzelfall. Wir haben eine ganze Reihe Fälle, die die gleiche Fehlerstruktur aufweisen, nämlich Fehlinterpretation von Mammographien mit verheerenden Folgen für die betreffenden Frauen."
KOMMENTAR:
Eine Brust zu verlieren, ist eine der Folgen. Wird der Krebs nicht gestoppt, wütet er weiter, befällt andere Organe - mit jedem Tag, an dem er nicht erkannt wird, rückt der Tod ein Stückchen näher. Jährlich sterben in Deutschland 18.000 Frauen an Brustkrebs. Jede dritte könnte durch Screening gerettet werden. Der Mißstand ist bekannt - spätestens seit der Mammographiestudie von 1994.
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DR. GERD GLAESKE:
(Barmer Ersatzkasse)
"Nach der Mammographiestudie hätte man sehr rasch tätig werden können, auf der einen Seite auch von Seiten der Bundesregierung, von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums. Dort ist die Aufsicht für die Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Auf der anderen Seite hätten die Ärzte und Ärztinnen zusammen mit den Kassen ein solches Programm erstellen können. Auf dieser Ebene, zum Beispiel auch auf der Ebene des Bundesausschusses Ärzte-Krankenkassen, hätte sehr viel früher reagiert werden können. Man hätte aus den Erfahrungen aus anderen Ländern lernen können. Dies ist leider bislang nicht geschehen."
KOMMENTAR:
Aachen - hier könnte endlich bundesweit der Anfang gemacht werden. Die Region ist so weit, sofort ein Screening wie in Holland einzuführen. Alle beteiligten Berufsgruppen haben zugestimmt, mitzumachen, von den Radiologen bis zu den Pathologen, die verdächtiges Gewebe untersuchen sollen. Internationale Gutachter haben Aachen für startklar erklärt, zumal nur hier die für Screening wichtigen Brustkrebsdaten schon seit Jahren gesammelt werden. Doch als am Monatsanfang mit Antragsunterzeichnung grünes Licht gegeben werden sollten, blockierten niedergelassene Radiologen das Projekt. Obwohl Kassen und Ärzte die vorbildlichen Vorbereitungen lobten, entschieden sie, "das Projekt zu verschieben, bis diese Unterstützung der Ärzte in der Region vorhanden ist".
Wieso die niedergelassenen Radiologen sich wehren, ist mit gesundem Menschenverstand schwer nachvollziehbar, auch wenn es ihr Sprecher erklärt.
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DR. HELMUT ALTLAND:
(Berufsverband der Deutschen Radiologen)
"Konkret gesagt heißt das, daß die konkrete Vorstellung seitens des Zentralinstituts, was das Modellprojekt Aachen angeht, in der konkreten Ausgestaltung derzeit noch nicht konkret zu den Vorstellungen der Radiologen paßt, die es letztendlich ja durchführen sollen."
KOMMENTAR:
Konkret ist nur eins: Die blockierenden Ärzte lehnen die strengen internationalen Vorgaben ab. Sie stimmen nur zu, wenn alle Kollegen mitmachen dürfen, auch die ungenügend qualifizierten.
Seit Jahren kämpft Helga Ebel zusammen mit Selbsthilfegruppen für ein Früherkennungsprogramm in Deutschland. Für die Blockade hat sie nur eine Erklärung:
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HELGA EBEL:
(Krebsberatung)
"Es kann ja nur Erwerbsinteresse sein, gesunder Menschenverstand oder Berufsehre kann es ja nun nicht sein, oder ethische Argumente können es nicht sein, es kann nur Erwerbsinteresse sein. Das ist ein Skandal, und es ist ein Skandal, weil weiterhin unnötig Frauen sterben müssen, das ist unfaßbar, und das kann keine Frau nachvollziehen."
Abmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Was bleibt, sind Ohnmacht und Wut. Bis sich endlich etwas ändert, bleibt uns nichts anderes, als mit diesen Mißständen zu leben, möglichst genau darauf zu achten, wer mammographiert und zusätzlich mehr als eine Diagnose einzuholen. Also erweiterte private Vorsorge und Druck, Druck auf Ärzte, Krankenkassen und Politiker, sich dieses Skandals endlich anzunehmen, und zwar ganz schnell.