Sendedatum: 04.02.1999 21:00 Uhr

Klasse Show, wenig Substanz - Streifzug durch die rot-grüne Republik

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Heute vor genau hundert Tagen wurde etwas Wirklichkeit, mit dem keiner so richtig gerechnet hatte, am wenigsten die Akteure selbst: Rot-Grün konnte eine Regierung bilden. Und immerhin eines hat die neue Garde geschafft: Von Helmut Kohl spricht niemand mehr, dafür von Experimental-Politik, Chaos-Kombo und neuer Unübersichtlichkeit. Aber der so gescholtene Gute-Laune-Kanzler, der keinem weh und jedem wohl will, verwöhnt uns dafür mit strahlendem Siegerlächeln. Und eines ist erstaunlich: Trotz beißender Kritik der Politkommentatoren sind die Umfrageergebnisse für die neue Regierung gut. Die meisten Wähler meinen demnach, daß die Rot-Grünen ihren Job schon noch lernen werden. Sympathische Stümperei ist wohl verzeihlich. Also: Was genau denken die Menschen im Land über die neue Politik, wie fühlen sie sich vertreten? Und wie wird rot-grünes Handeln überhaupt wahrgenommen?

Meine Kollegen haben bekannte und unbekannte Wähler befragt.

VIDEO: Streifzug durch die Rot-Grüne Republik (23 Min)

KOMMENTAR:

Ankommen in Deutschland, in der Hauptstadt Berlin. Die Zeit drängt. Im Kabarett "Distel" hat die Vorstellung bereits begonnen. Hundert Tage rot-grünes Politspektakel: genügend Stoff für die kabarettistische Bilanz:

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KABARETT "DISTEL":

"Es kommt noch mal die Zeit, da sehnen wir uns nach der alten Regierung zurück."

"Manche sehnen sich schon heute zurück."

"Das ist zu früh, Genossen, erstmal abwarten, was noch kommt."

"Das kann man nie wissen."

"Schon deshalb sollten wir denen dankbar sein, die uns heute führen."

"Die führen uns, ohne zu wissen, wohin. Das traut sich nicht jeder."

KOMMENTAR:

Gisela Oechelhaeuser, Intendantin, Regisseurin, Kabarettistin - die Chefin der "Distel"-Brigade. Der Regierungswechsel, eine Herausforderung. Früher habe sie nur Kohl sagen müssen, und schon habe der Saal getobt. Mit dem durchgestylten Typ des rot-grünen Politikers werde es schwerer. Den neuen Ministern fehlten schlicht Ecken und Kanten.

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GISELA OECHELHAEUSER:

(Kabarettistin "Distel")

"Das hat natürlich für mich kaberettistischen Zündstoff ohne gleichen, daß wir also das Ganze - die Politik als so eine Art Casting sehen. Also wir werden im nächsten Programm darauf abheben, daß eigentlich Politik zu den darstellenden Künsten gehört. Und Schröder und Fischer sitzen in der Garderobe nach dem Abschminken vor dem Spiegel und suchen ihr altes Gesicht und stellen Rückübertragungsansprüche auf Meinungen, die sie mal hatten."

KOMMENTAR:

Streifzug durch Berlin, kreuz und quer, auf der Suche nach Stimmungen in der rot-grünen Republik. Die Regierung Schröder im Aufbruch. Schon bald wird sie hier in der Hauptstadt residieren. Machtwechsel, Modernisierung, große Hoffnungen, große Ansprüche. Und nun, was bleibt nach hundert Tagen?

Das Café Einstein. Hier treffen sich die Promis zu Sektfrühstück oder doppeltem Espresso. Die rot-grüne Polit-Show - auch hier Thema der Intellektuellen, Schauspieler und Fernsehgrößen. Langweilig ist das nicht, denn täglich liefert Bonn neue Schlagzeilen - mit hohem Unterhaltungswert. Da freut sich nicht nur der Fernseh-Talker, Gesprächsstoff genug.

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ERICH BÖHME:

(Fernseh-Talker)

"Nun sind die dran, die man eigentlich wollte. Es war ja unverkennbar, man kann sich ja nicht ganz neutralisieren. Okay, nun tun die einem ja den großen Gefallen und albern da im Anfang ungeheuer herum, eiern in den ersten hundert Tagen. Die Leute wollen Show, die Leute kriegen Show. Hat natürlich auch zur Folge, daß dadurch die Politik etwas unernster geworden ist, hat zur Folge, daß die Politiker sich zurechtlegen: Wie komme ich bei den Leuten an, und was erzähle ich denen? Sie erzählen denen natürlich nicht die unangenehmen, sondern nur die schönen Sachen des Lebens und daß sie alles ritzen und daß alles läuft und alles gut wird. Also die Politik ist da ein bißchen - naja, Gott, wie beim Fernsehen auch, wir gucken nach der Quote ja, die ist ein bißchen verhurt gegangen dabei."

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DIETER SCHRÖDER:

(Herausgeber "Berliner Zeitung")

"Schröder hat eine ungeheure Begabung, Ideen, Politik, auch sich selbst zu verkaufen. Er ist ein Medienstar. Aber was ihm wahrscheinlich fehlt, das sind die eigenen Überzeugungen, die dahinter stehen müßten, um einer Vision Power zu verleihen, um einen Schwung da hinein zu bringen."

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SEBASTIAN TURNER:

(Werbeagentur Scholz & Friends)

"Der große Nachteil ist, wenn Sie ein so großer Kommunikator sind, dann steigen die Erwartungen. Wenn Sie die Erwartungen nicht erfüllen, dann wird der Schröder ein großes Problem haben können, daß man sagt: Das ist ein wunderbarer Waschmittelverkäufer, aber der ist mit dem Regieren überfordert, gebt uns diesen langweiligen Dicken wieder."

KOMMENTAR:

Die Kritiker mäkeln und maulen, das Volk aber setzt unbeirrt auf Schröder. Endlich bewegt sich was, sagen die Leute auch hier in Berlin-Marzahn: das höhere Kindergeld, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Politik für's Volk, die gnädig stimmt.

Leben in Marzahn, für über 14 Prozent ein Leben ohne Arbeit. Das war so unter Kohl, und das wird auch unter Schröder so bleiben. Nur: der stets strahlende Kanzler weckt diffuse Hoffnungen.

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ARBEITSLOSER:

"Es ist so gewesen, ich war auf dem Arbeitsamt vor vier Wochen ungefähr. Und ich dachte schon, ich krieg' einen neuen Job. Da hat man zu mir gesagt, ich bin vom Alter her schwer vermittelbar. Aber man hat mir auch gesagt, geben Sie die Hoffnung nicht auf, und das mache ich auch nicht."

KOMMENTAR:

Hoffnung - auch wenn sich faktisch seit dem Regierungswechsel kaum etwas bewegt hat. Vier Millionen Arbeitslose, und die Aussichten auf das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr geben wenig Anlaß zu Optimismus.

Berlin-Alexanderplatz. Auch wenn die Schlagzeilen noch so skeptisch sind - von Resignation hier keine Spur. Es boomt in der Mitte Berlins: Elegante Büros, großzügige Empfangshallen, grenzenloses Wachstum - so scheint es.

Im 13. Stock ein Skeptiker: Dieter Schröder, Herausgeber der BERLINER ZEITUNG. Er hat schon viele kommen und gehen sehen, das rot-grüne Aufbruchsgetöse läßt den Polit-Journalisten völlig kalt. Für Schröder völlig unverständlich, wie man darauf reinfallen kann.

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DIETER SCHRÖDER:

(Herausgeber "Berliner Zeitung")

"Ich hab' immer das Gefühl, wir sagen, wir haben vier Millionen Arbeitslose, und die Zahl stimmt wahrscheinlich, die Frage ist ja interessant: Warum haben wir eigentlich keinen sozialen Unfrieden im Lande, warum geht es trotzdem weiter. Einerseits natürlich wegen der Unterstützung, auch wegen der sehr hohen Sozialhilfe, andererseits natürlich, weil wir inzwischen eine - weil wir uns durchwursteln. Hier hat sich über die Jahre eine Durchwurstel-Gesellschaft entwickelt."

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STEPHAN GRÜNEWALD:

(Psychologe)

"Also, Schröder trifft eigentlich ganz gut die Gemütslage der Nation, weil er in seiner Art einerseits ungeheuer viel in Aussicht stellt, aber den Leuten nichts konkret abverlangt. Und das paßt in diese träge, moussierende, harmonisierende Endzeitstimmung."

KOMMENTAR:

Das weltumspannende Geschehen - zu kompliziert, der Deutsche will seine Ruhe. Die Wähler gaben die Stimmen, jetzt soll die neue Regierung die Probleme gefälligst alleine lösen - und das möglichst schmerzfrei, denn das eigene Portemonnaie muß gut gefüllt bleiben, für die Flucht ins private Glück.

Er legt die Deutschen auf die Couch: Stephan Grünewald, Psychologe. Stippvisite in der Hauptstadt. Seine Studien ergründen Sehnsüchte, Erwartungen, Träume. Grünewalds Fazit: Die deutsche Seele steckt voller Widersprüche.

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STEPHAN GRÜNEWALD:

(Psychologe)

"Einerseits beklagt man sich, daß man nur halbherzig operiert, daß zu wenige zupacken, zu wenig Entschiedenheit in den Reformen erfolgt. Andererseits, sobald die Regierung irgendwas unternimmt, irgendwas macht, gibt's Panikreaktionen, und man will alles wieder beim alten belassen bzw. rückgängig machen. Das Credo der Wähler im Moment lautet: Wasch mich, aber mach mich nicht naß."

KOMMENTAR:

Abrauchen, Verdrängen, Stillstand. Politik, die nichts riskiert, Wähler, die sich nicht wandeln. Sieht so die rot-grüne Zukunft aus? Hauptsache, der Wechsel verkauft sich gut. "Bonn kommt" klebt an der U-Bahn-Scheibe.

Diese Baracke ist gerade zum Theater des Jahres geworden. Hier inszeniert der Querdenker der deutschen Kulturszene. Der Erfolgsregisseur verabscheut Unterhaltungskultur. Angriffstheater will er machen: Thomas Ostermeier. Die Aufführung der ersten hundert Tage Rot-Grün: für den dreißigjährigen ein Drama.

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THOMAS OSTERMEIER:

(Regisseur)

"Es ist für mich einfach nur so ein Austausch einer Machtclique letztendlich dann doch, auch wenn das Leute sind, mit deren Biographien man sich mehr identifizieren kann. Aber dann guckt man da vielleicht viel mehr und mit viel größerer Desillusion auf seine eigene Biographie und hat Angst, wo man selber irgendwann landet, weil es ja doch Parallelen gibt mit diesen Leuten, als die zwanzig, dreißig waren, was die wollten, wofür die gekämpft haben, wie die aufgetreten sind und wie sie jetzt auftreten. Und da macht sich einfach eher eine Desillusion breit. Also das ist jetzt so mein ganz persönliches, individuelles Problem, wo ich immer denke: Mein Gott, wann wirst du so verknöchert und alt oder kompromißbereit und nachgiebig und so."

KOMMENTAR:

Subkultur, Techno-Rave am frühen Morgen. Spaß bis zur Ekstase, laut und schrill. Der Rhythmus treibt durch die Nacht. Eine eigene Welt. Max, seit Jahren in der Szene unterwegs, professionell, sein Geld verdient er in Techno-Clubs. Parties und Politik - kein Widerspruch.

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MAX HASSEMER:

"Vielleicht steht der absolut radikalen Änderung und dem, daß es nach vorne geht und von heute auf morgen was passiert, das so ein bißchen im Weg, daß es immer über so eine große Mehrheit gehen muß. Aber ich bin nicht politikverdrossen, ich würde mir nicht leisten, nicht wählen zu gehen und so, und das ist ganz wichtig für mich."

KOMMENTAR:

Politikverdrossenheit ist hier ein Forschungsthema. Seit Jahren untersuchen Politologen an der Freien Universität Berlin die Frage, warum viele Deutsche so unpolitisch sind - oder waren. Mit dem Einzug der jüngeren Generation ins Kabinett haben die Wissenschaftler einen neuen Politikstil ausgemacht: menschlich, transparent, spannend.

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RICHARD STOESS:

(Politologe)

"Der Umgang der neuen Minister mit ihrem Amt, auch mit der Öffentlichkeit ist, denke ich, wesentlich lockerer, auch wesentlich offener. Ich habe mir bei vielen Ministern oder Ministerinnen - ich nenne mal Frau Fischer als Beispiel - da habe ich mich eigentlich gefreut, wie offen sie auch über ihre Probleme reden kann, die sie mit dem neuen Amt hat, was sie eigentlich, denke ich, eher stark macht als schwach. Wenn man seine eigenen Probleme zugibt und so, das zeigt ja eigentlich, daß sie eine sehr starke Frau ist und ihre Erfahrungen auch der Öffentlichkeit mitteilen kann. Denken Sie mal an Helmut Schmidt oder Helmut Kohl, der hätte das nie öffentlich gemacht, er hätte seinen Ärger in sich hineingefressen, aber er hätte den nie vor einer Kamera mitgeteilt."

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ERICH BÖHME:

(Fernseh-Talker)

"Den Kohl habe ich nicht lachen sehen, Kohl hatte ja immer sehr finster geguckt, und wenn er denn mal einen Scherz gemacht hat, dann war es in der Regel zu Lasten anderer. Und jetzt sieht man ihn nur noch mit einem Mokanten Lächeln irgendwo in der Ecke rumstehen oder sitzen, wie so'n schwarzes Möbel, was sie vergessen haben wegzuräumen."

KOMMENTAR:

Aufbruch in das neue Jahrtausend. In Berlin-Mitte investieren multinationale Konzerne gigantische Summen. Hoffnung für den Standort Deutschland?

Am Horizont die größte Baustelle Europas: der Potsdamer Platz. Das sieht nach Aufschwung aus, doch auch die Baubranche hat bundesweit zu kämpfen. Wer hier Arbeit hat, der kann sich glücklich schätzen. Dennoch beklagen viele Bauarbeiter die ungerechte Steuerlast.

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BAUARBEITER:

"Mit den Steuern kann ich nur befürworten gegen den großen Mann, weil wir arbeiten ja für den großen Mann, und der stößt sich gesund und sitzt irgendwo da am Beach, Strand und trinkt da seine Dinger. Und dem sollte man tiefer in die Tasche greifen. Und uns oder Alleinstehende mit Kindern, da müssen sie irgendwie was anderes finden. Ich bin Steuerklasse 1, wie gesagt, und mich regt es auf, wenn ich den Lohnzettel sehe, weil da fragt man sich, für was man arbeitet."

KOMMENTAR:

Auch die Bosse stöhnen. Vergleichen ließe sich die Bundespolitik mit einer Baustelle, für die es keinen Bauplan gibt. Nach hundert Tagen Rot-Grün herrscht in den Chefetagen die allgemeine Verunsicherung.

Eine der besseren Adressen Berlins. In diesen Büros von Auftragskrise auf den ersten Blick keine Spur. Dennoch wird gejammert. Wenn es so weiter geht, will Immobilien-Multi Roland Ernst Arbeitsplätze abbauen, bis zu 20 Prozent. Schuld sind aus seiner Sicht die rot-grünen Wirtschaftsdilettanten.

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ROLAND ERNST:

(Unternehmer)

"Ich kenne Entscheidungen von Großindustrie, die heute Rieseninvestitionen schon zurückgestellt hat, weil die sagen: Wir müssen erst mal wissen, was jetzt mit der ganzen Energiesteuer passiert. Denn da hat man ja auch gesagt, man wird die Firmen, die viel Energie brauchen, wird man irgendwie einen Ausgleichen schaffen. Seit ein paar Tagen ist das auch wieder vom Tisch. Wissen Sie, wenn immer Dinge gesagt werden, und dann zwei, drei Tage wird's wieder revidiert, und deswegen ist eine gewisse Stagnation da, daß viele sagen: Jetzt warten wir erst mal, bis die sich letztlich ausgegoren haben, was sie eigentlich wollen."

KOMMENTAR:

Einige Straßen weiter fällt das Interieur bescheidener aus: das Büro der Bankvorstandsfrau Malene Kück. Gerade ihre Kunden hätten zu knapsen, so die Professorin der Volkswirtschaft. Und ohne gesunden Mittelstand keine neuen Arbeitsplätze.

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MARLENE KÜCK:

(Bankerin)

"Wir brauchen einfach mehr reformerischen Mut, wir haben zu kleine Schritte in dieser Steuerreform und schon wieder so viele Schlupflöcher. Ich will eine einfache Steuergesetzgebung mit einfachen, transparenten, nicht zu hohen Steuersätzen. Was soll dieses umfangreiche Reformwerk, das ja jetzt auch schon wieder im Gesetzesentwurf 300 Seiten lang ist. Ich verstehe - noch mal - diese Zaghaftigkeit der Bundesregierung nicht, sie weiß ja ganz genau, wo es hingehen muß - die Schritte müssen ein bißchen größer werden."

KOMMENTAR:

Kreuzberg. Im bundesdeutschen Mekka von Teestuben und Dönerbuden die ersten Gewinner der rot-grünen Koalition. Knapp vier Jahrzehnte nach Ankunft der Gastarbeiter bekennt sich eine deutsche Regierung erstmals zu ihren Einwanderern. Aber: über die Hälfte der Bundesbürger hat Angst. Angst vor einer multikulturellen Gesellschaft. Doch Toby Frost, gebürtiger Kreuzberger, findet Multi-Kulti ganz normal.

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TOBY FROST:

"Sicherlich gibt es auch mal Reibepunkte, und es gibt sicherlich auch mal jemanden, den du auf der Straße erlebst, der über die Türken oder Araber meckert oder über die 'Scheiß-Moslems' oder sonstwie, also gibt's immer. Es gibt auch Türken, die sich über Deutsche aufregen oder so. Aber ich meine, es gibt in jedem Dorf einen Bauern, der sich über einen anderen Bauern aufregt. Also ich meine, es ist im Grunde genommen das gleiche."

KOMMENTAR:

Vorurteile bleiben. Was, wenn Doppelstaatler bald nicht mehr nur Telefonläden führen, sondern Posten als Bürgermeister, Richter oder Staatsanwälte fordern? Zukunftsmusik, denn bislang interessieren sich viele noch nicht einmal für bundesdeutsche Tagespolitik.

Das muß anders werden, fordert die türkische Redaktion vom SFB-Programm Radio "Multi-Kulti". Cem Dalaman, Politologe und Redakteur, ist sich sicher: Die doppelte Staatsbürgerschaft kann kein Allheilmittel zur Integration seiner Landsleute sein.

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CEM DALAMAN:

(Radio "Multi-Kulti")

"Deutsche Türken oder türkische Deutsche, wie man sie auch bezeichnen mag, müssen dieses Land als auch ihre Republik begreifen und mit den Rechten und auch Pflichten natürlich, vor allem, wenn sie Doppelstaatler sein wollen oder sind. Dann müssen sie auch zu politischen Entwicklungen in diesem Land viel mehr Interesse zeigen, auch dazu stehen. Wir merken in unserer Berichterstattung, wenn wir Sendungen machen, daß es da noch relativ viel nachzuholen gibt. Also eine große Anzahl von Türken legt leider noch - aus gegebenem Anlaß, weil die deutsche Mehrheit sie jahrelang diffamiert oder ins Abseits gedrängt hat - noch immer mit dem Blick in die Türkei, also mit einem rückwärts gerichteten Blick. Dieses Verständnis muß sich auflösen."

KOMMENTAR:

Ganz unten in Deutschland. Allein in der Hauptstadt leben 9.000 Obdachlose. Politik, Regierungswechsel - überhaupt kein Thema. Wichtiger ist der Schlafplatz für die nächste Nacht.

Ein Zobel, gefüttert mit reiner Seide, Preis: 42.800 Mark. Nicht das teuerste Stück in der Boutique von Christine Gabel. Luxus als Lebenselixier, Konsum als Zeitvertreib. Doch auch hier hofft die Kundschaft auf den Aufschwung.

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CHRISTINE GABEL:

(Pelzhändlerin)

"Viele sagen oder beklagen, daß es nicht elegant genug sei hier in der Stadt, also speziell meine Kunden, die sich auch gerne gut anziehen oder eben Pelz tragen, und würden es gern sehen, wenn es voranginge mit dem Schick und mit der Eleganz."

KOMMENTAR:

In der Suppenküche des Franziskaner-Klosters ist jeder froh über eine warme Mahlzeit. Über vierhundert Menschen kommen hierher, jeden Tag - nicht nur Berber, sondern auch Rentner, Arbeitslose, Familien mit Kindern. Die ganz normale Armut in Deutschland.

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NACHRICHTEN:

"630-Mark-Jobs, Riester verteidigt Neuregelung im Bundestag."

"Unsere Reform ist gut, sie überfordert die Wirtschaft nicht, sie ist sozial ausgewogen, und sie sorgt für mehr Beitragsgerechtigkeit."

KOMMENTAR:

Hier kommen die Reste der Wohlstandsgesellschaft auf den Tisch: Spenden - oft ist das Verfallsdatum abgelaufen. Gedanken über hundert Tage Rot-Grün, in Bruder Peters Suppenküche reiner Luxus.

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BRUDER PETER:

(Franziskaner-Kloster)

"Die sagen, ich merk' doch noch nicht mal was davon, daß es mehr Kindergeld gibt, ob der Benzinpreis sich erhöht, ich hab' kein Auto, ich heize noch Kohle, wie auch immer, das übernimmt dann auch noch das Sozialamt, also das wird nicht meine große Sorge sein. Die Sorge ist, ob der Sozialhilfesatz um mehr als eine Mark oder 1,50 Mark steigt oder wie einfach menschlich mit den Leuten vor Ort umgegangen wird, weniger parteipolitisch als gesellschaftspolitisch. Wie betrachtet man Leute, die auf der Straße sitzen, geht man an ihnen vorbei, nimmt man die wahr als gleichwertige Menschen oder betrachtet man die als Dreck, wenn es dann heißt: Berlin muß sauberer werden."

KOMMENTAR:

Ein Streifzug durch die Hauptstadt. Stimmungen, Meinungen in der rot-grünen Republik. Ausblick:

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ERICH BÖHME:

(Fernseh-Talker)

"Die Erwartungen sind so hoch, daß sie auch mit Inhalt überkommen müssen. Sie müssen mit der Steuerreform überkommen, die ich bisher noch nicht sehe. Sie müssen mit ihrer Öko-Steuer überkommen, sonst brauche ich sie ja gar nicht erst zu wählen. Sie müssen mit dem Ausstieg aus der Atomkraft überkommen, und sie müssen überkommen in der Beschäftigungsfrage. Ich meine, man kann die Backen aufblasen und kann sagen: Vier Millionen Arbeitslose, das haben wir bald weg, oder wir geben uns Mühe, es bald weg zu haben - es muß kommen, und da kommt also sozusagen die Wahrheit hinterher."

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DIETER SCHRÖDER:

(Herausgeber "Berliner Zeitung")

"Das Pech ist nur, wir sind ein föderalistischer Staat. In diesem Jahr gibt es, glaube ich, insgesamt elf Wahlen, davon sieben oder acht Landtagswahlen, so genau weiß ich das gar nicht, Kommunalwahlen und die Europawahl. Das heißt, wir haben ein Superwahljahr, und in einem solchen Jahr wird man natürlich weiterhin Rücksicht auf die Wähler nehmen und feige sein, um es so deutlich zu sagen."

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MARGA BEHRENDS:

"Wir wollen niemals auseinandergehen."

KOMMENTAR:

Superwahljahr hin oder her. Wer im Rampenlicht steht, für den ist feige sein einfach nicht drin. Das hat zumindest Sängerin Marga Behrends in ihrer langen Bühnenkarriere gelernt. Und noch einen Ratschlag hat die 91jährige Berlinerin für den Kanzler parat:

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MARGA BEHRENDS:

"Er wollte ja gerne ran, jetzt muß er zeigen, was er kann. Das Recht haben wir, von ihm das zu verlangen."

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Genau so ist es. Die Schonzeit für die neue Regierung ist nun vorbei, der Prolog beendet.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 04.02.1999 | 21:00 Uhr

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