Sendedatum: 16.12.1999 21:00 Uhr

Affären, Phrasen, Rituale - Wählerfrust über selbstherrliche Politiker

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

So ein partieller Gedächtnisverlust erschüttert unseren Restglauben an die Redlichkeit unserer Staatslenker. Und Schuld daran ist wahrlich nicht nur die CDU mit ihren Affären. Die Wahrnehmung der verschiedenen Skandale - auch in der SPD - verwischt sich. Jeder nimmt, was er kriegen kann, und hält das auch für rechtmäßig und verdient. Dieser Eindruck setzt sich fest. Rund 18 Jahre nach der Flick-Affäre haben unsere Staatslenker daraus offensichtlich nur gelernt, wie man es ein wenig geschickter macht. Und wenn selbst der Bundespräsident nun glaubt, sich öffentlich verteidigen zu müssen, wie gestern in der ARD geschehen, dann brechen Dämme in unserem Staatsgefüge. Da bröckelt ein weiteres Denkmal. Wenn Politik käuflich erscheint oder wenn Politiker jede Zurückhaltung, jede Moral und später dann die Wahrheit vergessen, dann hat das Folgen. Über die berichten Sabine Platzdasch und Michaela Wich-Glasen.

VIDEO: Wählerfrust über Politiker - Affären ohne Folgen? (7 Min)

KOMMENTAR:

Daubenrath bei Aachen. Es ist halb acht, in der Dorfschänke Henninkksen beginnt pünktlich die Adventsfeier des hiesigen CDU-Ortsverbands. In fünf Monaten sind hier Landtagswahlen, und die Basis sieht gerade ihre Felle davonschwimmen. Die Stimmung ist schlecht. Tagesordnungspunkt Nr. 1: der Parteispendenskandal.

0-Ton

WOLFGANG SPELTHAHN:

(CDU-Landrat)

"Der macht mich tief betroffen, weil wir waren in hervorragender Verfassung, in guter Stimmung, lagen in Umfragen deutlich vorne und sind natürlich durch diese Sache jetzt ins Kontor getroffen worden. Wir wissen natürlich nicht allzu viel an der Basis, sondern sind drauf angewiesen, daß wir über die Medien und über die Partei informiert werden."

KOMMENTAR:

Ungewohnter Gegenwind für das wandelnde Denkmal Helmut Kohl. Doch den Ehrenvorsitzenden bläst so leicht nichts um. Nach altbewährter Manier gibt's auch bei ihm die Wahrheit nur in kleinen Häppchen.

0-Ton

PROF. DR. JÜRGEN FALTHER:

(Politologe)

"Es gibt ein sehr typisches Muster der Verarbeitung von solchen Skandalen. Erst geschehen sie, dann kommt irgendein kleinbisschen was raus. Dann werden die entsprechenden Verantwortlichen zur Rede gestellt. Sie geben immer nur das zu, von dem sie glauben, daß andere es wissen. Und dann kommt Stückchen auf Stückchen weiter raus. Und fast alle machen den Riesenfehler, nicht sofort mit der vollen Wahrheit rauszurücken, weil sie denken, sie können noch ein bisschen was in der Hinterhand halten."

KOMMENTAR:

So weit die Theorie. Nun die aktuelle Praxis.

0-Ton

HELMUT KOHL:

"In der Art und Weise, wie hier verleugnet wird, kann das so nicht stattfinden."

0-Ton

WOLFGANG SCHÄUBLE:

(CDU-Bundesvorsitzender)

"Es gibt keine irgendwo herumliegenden verborgenen Gelder, die man Schwarzgelder oder so nennen könnte."

0-Ton

HELMUT KOHL:

"Das ist viel Lärm um nichts."

0-Ton

WOLFGANG SCHÄULE:

"Für die Konten, von denen ich gesprochen habe, habe ich ja erläutert, wissen wir nicht im Einzelnen schon umfassend, woher das Geld kam."

0-Ton

HELMUT KOHL:

"Ich bedaure."

0-Ton

WOLFGANG SCHÄUBLE:

"Aber wir haben keinen umfassenden, vollständigen Überblick."

0-Ton

HELMUT KOHL:

"Ich bedaure."

0-Ton

ANGELA MERKEL:J

(CDU-Generalsekretärin)

"Ich möchte eine lückenlose Aufklärung."

0-Ton

WOLFGANG SCHÄUBLE:

"Möglichst rasch, so schnell wie irgend möglich."

0-Ton

ANGELA MERKEL:

"Schnellstmöglich."

0-Ton

WOLFGANG SCHÄUBLE:

"So rasch wie möglich."

0-Ton

ANGELA MERKEL:

"Wir dürfen es jetzt auch nicht übereilen."

KOMMENTAR:

Der Wähler hat das Spiel mit den hohlen Phrasen durchschaut, glaubt ihnen längst nicht mehr. Wut mischt sich mit Resignation und Enttäuschung.

0-Töne

MANN:

"Traurig, ist traurig, finden Sie das nicht? Die stopfen sich so hemmungslos die Taschen voll, das ist ein Pack, also ehrlich."

FRAU:

"Muß man dazu stehen, wenn ich was gemacht habe, muß ich dazu stehen irgendwie, dann kann ich mich nicht immer drücken."

MANN:

"Erstmal muß der Sumpf trockengelegt werden, und da ist im Moment ja noch überhaupt kein Ende abzusehen. Also im Moment geben die Herren und Damen, glaube ich, nur so viel zu, wie man ihnen wirklich nachweisen kann."

KOMMENTAR:

Er will dabei nicht tatenlos zusehen. Rechtsanwalt Matthias Waldraff aus Hannover hat vor zwei Wochen Strafanzeige gegen Helmut Kohl gestellt, wegen des Verdachts der Untreue, also Verstoß gegen § 266 Strafgesetzbuch.

0-Ton

MATTHIAS WALDRAFF:

(Rechtsanwalt)

"Ich habe diese Strafanzeige erstattet, weil ich es nicht mehr hinnehmen wollte, daß nach der Erklärung des Herrn Dr. Kohl in Berlin, die er der deutschen Öffentlichkeit abgab, gar nichts passierte. Das war ich nicht mehr bereit länger hinzunehmen, auch weil ich weiß aus meiner täglichen Praxis, wieviele Bundesbürger wegen wahrlicher Peanuts täglich mit Ermittlungsverfahren bedacht werden."

KOMMENTAR:

Bis heute ist das Ermittlungsverfahren noch nicht eingeleitet worden. Bei den Bürgern sinkt das Vertrauen mehr und mehr.

0-Töne

FRAU:

"Die sollten halt dafür bestraft werden, wenn sie so was machen. Ich finde das nicht in Ordnung, daß die da hintenrum, ja, bescheißen."

FRAGE:

"Und glauben Sie, das wird passieren, werden die bestraft werden?"

FRAU:

"Nee, nicht wirklich, nee. Die werden wieder gut bei wegkommen, glaube ich."

MANN:

"Machen genau Schmu, bin ich felsenfest von überzeugt, daß jeder Dreck am Stecken hat von den Herrschaften, ist doch zwingend logisch. Also das ist wahrscheinlich die Spitze des Eisberges, der da jetzt mal rauskommt."

MANN:

"Politik ist so. Ich kann auch nur staunen, vor allen Dingen, weil der Kohl so beliebt war, und jetzt macht er so einen Blödsinn, also das ist unverständlich, unbegreiflich. Aber die anderen Parteien, auch die SPD, haben was am Stecken, bin ich von überzeugt."

KOMMENTAR:

PANORAMA wollte es genau wissen. Ist die CDU-Spendenaffäre ein Problem allein von Helmut? Ja, sagten 6 Prozent aller Bundesbürger. Ein Problem der CDU? Das fanden 18 Prozent. Oder ist die Affäre ein Problem, das alle Parteien betrifft? 70 Prozent antworteten mit ja.

0-Ton

PROF. DR. JÜRGEN FALTHER:

(Politologe)

"Die Gefahren sind enorm bei einem solchen Skandal. Zunächst einmal verliert man das Vertrauen in bestimmte Parteien, aber die anderen bekommen auch etwas ab, nämlich deswegen, weil die meisten Wähler das den anderen Parteien auch zutrauen. Die können ja nicht das denen klar machen, dass es nicht bei ihnen passiert, sondern dann sagt man eigentlich eher, die sind nicht entdeckt worden."

KOMMENTAR:

Skandale und Affären haben Tradition in der deutschen Geschichte. Nur wenige Beispiele von vielen:

Franz Josef Strauß - Rücktritt wegen der Spiegelaffäre 1962

Uwe Barschel - sein Ehrenwort fiel 1987

Björn Engholm - er wußte mehr von der Barschel-Affäre, als er zugab

Amigo Max Streibl - Rücktritt 1993

Lothar Späth - die Traumschiffaffäre

Gerhard Glogowski - untergetaucht auf Firmenkosten, Rücktritt vor 3 Wochen.

Und seit gestern muß sich sogar der höchste Mann im Staat unangenehme Fragen gefallen lassen.

0-Töne

MANN:

"Das ist so ein korruptes Volk, das ist überhaupt nicht nachzuvollziehen, was da alles passiert ist."

FRAU:

"Ja, es wird betrogen auf jeder Ebene. Ist keiner von ausgenommen."

MANN:

"Macht macht irgendwo korrupt, und das hat sich in der Vergangenheit bestätigt und wird sich sicherlich auch in der Zukunft immer wieder bestätigen."

MANN:

"Vertrauen in Politiker - können Sie doch wohl nicht haben."

KOMMENTAR:

Ist das Vertrauen in die Politik durch die aktuellen Skandale gesunken? 15 Prozent aller Bundesbürger sagen nein. Aber bei 38 Prozent ist das Vertrauen gesunken. Und weitere 42 Prozent gaben an, sowieso noch nie Vertrauen in die Politik gehabt zu haben. Politikerverachtung repräsentativ ermittelt.

0-Töne

MANN:

"Ich bin die letzten paar Mal nicht wählen gegangen, weil ich nicht weiß, wen, weil es überhaupt keine Alternativen gibt. Und von daher werde ich wahrscheinlich auch diesmal nicht wählen gehen."

MANN:

"Vom Bürger verlangen sie korrektes Handeln, und selber sind sie die größten Schweine. Ende."

KOMMENTAR:

Das Ritual ist bekannt. Aufklärung wird versprochen, Besserung gelobt - bis zum nächsten Mal.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 16.12.1999 | 21:00 Uhr

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