Sendedatum: 15.01.1998 21:00 Uhr

Sehnsucht nach der Mauer - Wut und Verzweiflung in den neuen Bundesländern

von Bericht: Gesine Enwaldt

Anmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Sechs Millionen Arbeitslose hat mein Kollege im Film gerade eben prognostiziert. Und Bundespräsident Roman Herzog sprach heute von der "neuen Geißel der Menschheit". In Westdeutschland ist jeder achte ohne Arbeit, im Osten jeder fünfte. Dort gibt es keinen sich selbst tragenden Wirtschaftsboom. Dort droht die Wirklichkeit die alten SED-Propagandaparolen über den Kapitalismus noch zu übertreffen.

VIDEO: Wut und Verzweiflung im Osten: Sehsucht nach der Mauer (7 Min)

Meine Kollegin Gesine Enwaldt hat in Brandenburg eine Region besucht, in der kaum noch jemand einen Arbeitsplatz hat.

KOMMENTAR:

Patrick ist ein ernsthafter Junge. Er weiß, was eine Arbeitsbeschaffungsmaßname ist und wo man sparen kann, wenn das Geld knapp ist. Wie immer sind die Straßen leer in seinem Heimatdorf Jakobshagen, hundert Kilometer nördlich von Berlin. Patrick hofft, daß seine Mutter gute Laune hat, denn sie hat ein schweres Leben. Von den zweihundert Leuten im Dorf haben vielleicht zwanzig eine Arbeitsstelle. Seine Mutter gehört nicht dazu. Sie erzieht das Kind alleine. Sie läßt keine Stellenanzeige aus, kein Weg ist ihr zu weit, kein Angebot zu minderwertig. Sie ist 34 Jahre alt, ohne Perspektive.

0-Ton

ROSWITHA KOCH:

(Arbeitslose)

"Der Mut ist weg. Man schreibt und legt vor, man macht ja auch alles. Aber es wird ja nicht besser, und das ist das Schlimme. Ich habe eigentlich sehr große Angst, jetzt von der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe reinzurutschen, davor habe ich wirklich große, sehr große Angst. Wenn es hier jetzt nur weiter bergab geht, auch die ganze Aggressivität der Leute, daß es irgendwo mal so rumpst, daß den Leuten der Kragen platzt, da habe ich große Angst vor."

KOMMENTAR:

Einer wie er hat es geschafft, sagt sie, der Bürgermeister von Jakobshagen. Er lebe auf der sicheren Seite des Lebens, weil er Rentner ist. Dem kann nichts mehr passieren. In seinem Dorf in der Uckermark kümmert er sich hauptsächlich um den Seniorenclub. Hier gibt es Männer, die fahren 1.500 Kilometer in der Woche, um zur Arbeit zu kommen. ABM gibt es hier nicht. Schlecht für die, die bei den Kindern im Dorf bleiben müssen.

0-Ton

KARL-HEINZ ROESLER:

(Bürgermeister Jakobshagen)

"Am schlimmsten davon betroffen sind die Frauen, und das tut mir eigentlich leid. Die Frauen sind Arbeit gewöhnt bei uns und möchten ja auch gerne was tun. Vor allen Dingen ist es ja auch eine finanzielle Frage."

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ROSI ROGWOSKI:

(Arbeitslose)

"Ich bin minderwertig. Vorher war ich im Schuldienst tätig 24 Jahre. Man wurde immer gebraucht und jetzt auf einmal nicht mehr. Vielleicht lassen die Leute das einen auch spüren, die jetzt noch Arbeit haben."

KOMMENTAR:

In ihrem Wohnblock beäugt man sich mittlerweile mißtrauisch. Die Arbeitslosigkeit sät Mißgunst unter den Nachbarn: Wer hat Arbeit, wer wieviel Geld? Wer sich sichtbar etwas leisten kann, bekommt den Neid zu spüren.

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ROSI ROGWOSKI:

"Wenn der Möbelwagen kommt, und trifft man sich dann vor der Tür, dann ist es nicht ehrlich. Und dann: Ja, die können schon wieder, und die kaufen schon wieder. Jeder kauft doch so, wie er es sich leisten kann, sag' ich immer. Jeder muß wissen, ob er das Geld ausgibt oder ob er da einen Kredit aufnimmt. Und da ist schon ein bißchen Neid, das war vorher nicht so gewesen, da hat der Mensch sich doch schon geändert."

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ROSWITHA KOCH:

"Früher wurde man als Mensch behandelt, so wie man war, was heute nicht mehr ist. Heute ist es unmenschlich, wie man heute - wie gesagt - Hauptsache, man hat Geld."

INTERVIEWERIN:

"Wünschen Sie sich die DDR-Zeiten zurück?"

ROSWITHA KOCH:

"Ja, da bin ich ganz ehrlich, die wünsche ich mir zurück."

KOMMENTAR:

Die Friedhöfe der Vollbeschäftigung. Alle, die hier lebten, haben in der Landwirtschaft gearbeitet, haben hier gelernt. Sie nannten sich Zootechniker oder Mechanisatoren. Seit sieben Jahren liegt das nun hier herum, und niemand räumt es weg. Investoren sind nicht in Sicht.

Der Dorfladen hat endgültig geschlossen, die Besitzer hatten mehrfach gewechselt, ihr Geschäft war zu teuer. Soziale Treffpunkte sind tot. Häuser von Wochenendurlaubern, nur sporadisch kehrt hier Leben ein. Konzepte für den sogenannten sanften Tourismus sind gescheitert, die Ferienwohnungen stehen auch im Sommer zu oft leer.

Eine Kneipe im Nachbardorf. Selten trifft man sich hier, weil das Geld fehlt. Sie kommen nur zusammen, weil das Fernsehen da ist, um den Wessis mal zu sagen, wie es wirklich ist und wie die Arbeitslosigkeit die Gemeinschaft zerschlägt.

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FRAUEN:

"Jetzt sind die Türen zu. Jeder macht seins, so ungefähr, und ja nicht irgendwie den anderen belästigen, guten Tag, guten Weg. Also das ist - früher war das ganz anders."

"Da haben wir zusammengehalten, Feiern gemacht."

"Es gibt gar nichts mehr, wir haben überhaupt nichts mehr."

0-Ton

MICHAEL KRAUSE:

(Arbeitsloser)

"Wenn du dich irgendwo bewerben tust, das erste ist gleich: Wie alt sind Sie? Wenn ich dann sage: Baujahr '60, dann können sie sich ausrechnen: Nee, nee, nee, zu alt, Sie sind doch keine 27 mehr oder 28 oder was. Was soll denn sowas?"

KOMMENTAR:

Einige von ihnen haben es drüben schon versucht, zum Beispiel in Bayern. Gedemütigt kamen sie zurück.

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FRAU:

"In Bayern auf dem Arbeitsamt haben sie gesagt: Euch muß man das Arbeiten erstmal lernen."

KOMMENTAR:

Die Wessis sind eben nicht zimperlich. Fauler Ossi, das haben sie schon zu oft gehört.

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MÄNNER:

"Man hätte die Mauer damals noch zwei Meter höher machen sollen und sollten laufen lassen alles, was läuft. Und was eben hier bleibt, bleibt eben hier. Denn wir haben alle Arbeit gehabt."

"Wenn jetzt die Mauer noch mal gebaut würde, ich würde sofort hingegen, daß sie sie zwei Meter höher bauen."

KOMMENTAR:

Mangelwirtschaft, Diktatur, Überwachung und auch der quälende Gestank der DDR-Massentierhaltung sind längst vergessen. Die Kreide ist noch ganz frisch, Ausdruck von fragwürdiger Kreativität.

Die sieben Kinder der Familie Fensig. Wie alle anderen, die jung sind, werden sie von hier weggehen. Auch ihre Mutter glaubt noch an den goldenen Westen.

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PETRA FENSIG:

"Wenn die Kinder wirklich jetzt aus der Schule gehen und lernen wollen, sag' ich immer: Weit weg, am besten nach dem Westen, da bekommen sie wenigstens Arbeit, und da stimmt auch das Geld."

TOBIAS FENSIG:

"Das Dorf wird untergehen, die hauen alle ab, weil hier überhaupt nichts ist."

KOMMENTAR:

Ihr Mann ist ständig unterwegs, versucht als Vertreter für Wärmetechnik die Familie über die Runden zu bringen. Es gibt Abendessen. Der Vater ist da, erschöpft, mit Kopfschmerzen, zu müde zum Essen. Die Kinder tragen Kleider aus zweiter Hand, bekommen kein Taschengeld und verzichten auf Klassenfahrten. Die Geschäfte laufen nicht, ihr Vater bringt fast kein Geld nach Hause. Trotzdem, er will es alleine schaffen.

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WOLFGANG FENSIG:

"Zum Arbeitsamt braucht man gar nicht mehr zu gehen, man ist da einfach bloß eine Nummer, man ist einfach kein Mensch, man ist bloß eine Nummer, mehr nicht. So daß mir einfach nichts anderes mehr übrig blieb, als einfach zu versuchen, in die Selbständigkeit zu gehen und aus eigener Initiative irgendwas aufzubauen. Aber es ist verdammt schwer."

KOMMENTAR:

Sie denkt, er hätte schon längst zum Arbeitsamt gehen müssen, das Kindergeld reicht nicht aus. Er hat kein Vertrauen in die Bürokratie des Amtes, aber das ist nicht der wichtigste Grund.

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WOLFGANG FENSIG:

"Ja, es gibt noch einen Grund."

INTERVIEWERIN:

"Was ist es?"

WOLFGANG FENSIG:

"Bettler zu sein, das ist beschämend, das ist beschämend."

Abmoderation:

PATRICIA SCHLESINGER:

Wie weit kann die Ungleichheit gehen, bevor etwas auseinanderbricht in einer Demokratie? Rückwärtsgewandtheit, Verlust sozialer Werte und Verantwortung. Der zivilisatorische Lack bricht auf. Und dann? Wie lange bleiben Massen von Arbeitslosen politisch treu und damit berechenbar? Manchmal wundere ich mich, wie ruhig es ist in Deutschland.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 15.01.1998 | 21:00 Uhr

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