Der Pastor, die Gemeinde und die Kirche - Der Fall Geyer vor Gericht
Anmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Zum ersten Mal steht in Deutschland ein Pastor vor Gericht, weil er seine Frau umgebracht haben soll. Heute sollte eigentlich das Urteil im Prozeß gegen Klaus Geyer gesprochen werden. Aber der Streit um die Indizien geht überraschenderweise weiter, die Urteilsverkündung wurde verschoben. Voller Selbstzufriedenheit kann man den Geistlichen schnell verdammen: übermäßige Geltungssucht und Eitelkeit, Diebstahl, mehrfacher Ehebruch. Ein Sünder ist er, der Pastor, das gibt er selbst zu. Ein Totschläger will der Gottesmann nicht sein. Wie dem auch sei, durch den Prozeß ist die Fassade des kirchlichen Gutmenschen zusammengebrochen, dahinter findet sich eine menschliche Tragödie. Und es bleibt ein Dorf zurück, dem man die Ikone, das Vorbild, genommen hat.
Nicola von Hollander und Christoph Lütgert über Gutgläubigkeit, Entsetzen und Abscheu.
KOMMENTAR:
Eine Kerze für Klaus Geyer - in der kleinen Kirche von Beienrode bei Helmstedt. Irmgard Gaßner bleibt fest im Glauben an die Unschuld ihres verehrten Pastors.
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IRMGARD GASSNER:
"Der Herr wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und wird das Trachten der Menschen offenbar machen. - Ich bin richtig bewegt, daß wir grade diesen Spruch, an sich ja zufällig, ich möchte beinah sagen, von Gott geschickt, bekommen haben, der uns doch tröstet und Mut macht, denn das ist ja das, was wir wollen, daß die Wahrheit ans Licht kommt und unser Pastor wieder nach Hause kann."
KOMMENTAR:
Im Braunschweiger Landgericht eine Mischung aus Filmpremiere und Sommerschlußverkauf. Die Meute will den Mann sehen, den eine Boulevard-Zeitung schon als Todespastor tituliert. Zum ersten Mal ist in Deutschland ein Pfarrer des Totschlags angeklagt. Klaus Geyer soll seine Frau erschlagen haben. Er beteuert seine Unschuld.
Ein schauriges Beweisstück: die Schädeldecke der Toten, mit Einschlagkerbe.
Beienrode, ein Straßendorf, noch leerer, seit der Prozeß läuft. Die Menschen verkriechen sich in den Häusern, aus Furcht vor dem nächsten Überfall der Medien.
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ROSEMARIE TETZLAFF:
(Bürgermeisterin)
"Es war schon kein normales Leben mehr hier möglich. Die Gespräche mit den Nachbarn über den Zaun hörten dann doch auf, man hat sich zurückgezogen. Also diese öffentlichen Begegnungen eben halt, das verblieb. Man traute sich einfach gar nichts mehr zu sagen. Viele verstummten."
KOMMENTAR:
Sie waren die Lichtgestalten im Dörfchen Beienrode. Veronica, bis zu ihrem Tod die zupackende Bürgermeisterin und Tochter des berühmten evangelischen Theologen Hans Iwand. Der Familiensitz der Iwands, ein großer Gutshof am Rande von Beienrode, das soziale und kulturelle Zentrum für die ganze Region.
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GEMEINDEMITGLIEDER:
"Also sie hatten beide immer oder oft ein volles Haus. Sie hatten viele Gäste."
"Also er war ein toller Pianist, das muß ich schon sagen. Er hat ja auch Konzerte gegeben und hatte seinen Flügel stehen in Beienrode."
KOMMENTAR:
Fernsehauftritte. Klaus Geyer, rhetorisch begabt, charismatisch und umtriebig, brachte es sogar zu nationaler Prominenz - Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen
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Archivmaterial 20.11.91
FRAGE:
"Erzählen Sie doch mal, wo und wie arbeitet Aktion Sühnezeichen jetzt, nachdem es ja schon über dreißig Jahre besteht."
KLAUS GEYER:
"Ja, das ist eigentlich ein kleines Wunder. Es fing an in einer Zeit des Kalten Krieges."
KOMMENTAR:
Klaus Geyer, der linke Friedenskämpfer im Kalten Krieg, das war seine Lieblingsrolle. Jedes Jahr ein großes Friedenscamp auf der Wiese vor seinem Gut in Beienrode. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus verliert er die ideologische Orientierung, steigt 1993 bei Sühnezeichen aus.
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THOMAS HENNING:
(Pfarrer Nachbargemeinde)
"Ich glaube, daß er sehr enttäuscht war, als er dann da als Vorsitzender aufhörte. Das war eine Krise für ihn, das glaube ich bestimmt. Und ich erinnere es auch als eine Zeit damals, in der er ja auch im Kirchenkreis plötzlich nicht mehr so präsent war und sich so zurückzog."
KOMMENTAR:
Alarmsignal für eine Lebenskrise. In diesem Braunschweiger Hifi-Markt wurde der Pastor bei einem Diebstahl von drei oder vier CD's erwischt, kurz nach dem Ausstieg aus Aktion Sühnezeichen. Erst jetzt im Prozeß wurde das öffentlich. Die Kirche konnte es bis dahin geheimhalten.
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HERBERT KOCH:
(Superintendent Wolfsburg)
"Es sind damals mehrere Gespräche mit ihm geführt worden. Ich selbst habe ein Gespräch mit ihm geführt, der Landessuperintendent hat mit ihm ein Gespräch geführt, und im Landeskirchenamt ist auch mit ihm über die Dinge gesprochen worden. Und es bestand in der Tat der Eindruck, dieser Vorgang ist Ausdruck einer Krisenphase in seinem Leben. Aber am Ende bestand auch der Eindruck, er fängt sich wieder."
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THOMAS HENNING:
(Pfarrer Nachbargemeinde)
"Ich habe Klaus Geyer eigentlich eher als jemanden kennengelernt, der geholfen hat, als als jemand, der Hilfe gesucht hat. Und ich bin so im Blick auf ihn und das, was ich jetzt auch so mitbekommen habe, sehr unsicher, ob er sich Hilfe gesucht hätte."
KOMMENTAR:
Die Gerichtszeichnerin hat den Angeklagten intensiv beobachtet. Klaus Geyer - menschlicher, als bürgerliche Moral es einem Gottesmann zugesteht.
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CHRISTINE BÖER:
(Gerichtszeichnerin)
"Er läßt bis zuletzt Rätsel zu. Also ich denke, man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was hier wirklich passiert ist. Einerseits hat er etwas sehr Gütiges und auch etwas, als ob er Schmerz hinter sich hat. Und, wie gesagt, andererseits hat er etwas Doppeltes, etwas leicht Abgründiges, aber wer hat das nicht?"
KOMMENTAR:
Ein Psychiater attestiert ihm Narzismus. Im Prozeß kommt heraus, daß der Pfarrer mehrere Geliebte hatte. Mit dieser legte er sich ins Ehebett, kaum daß seine Frau verschwunden war.
Intimes muß verhandelt werden, das Publikum den Gerichtssaal verlassen. Das gesunde Volksempfinden rebelliert, lechzt nach Geyers Bettgeschichten. Etwas weniger Rechtsstaat dürfte es da schon sein.
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FRAUEN:
"... weil man als Angeklagter eigentlich keine Rechte hat, ... in der Öffentlichkeit gesagt werden, der Richter es eigentlich auch gesagt hat, daß es öffentlich sein sollte.
"Aber das ist ja Zeugenschutz, kein Schutz des Beschuldigten."
"Trotzdem, ich meine trotzdem, daß es öffentlich sein sollte. Auch die Zeugen haben in dem Moment keinen Schutz mehr."
"Müßte so sein, finde ich. Wenn ich nichts zu verbergen hab', dann kann ich das sagen, dann kann ich das auch in der Öffentlichkeit sagen, was ich zu sagen habe, wenn ich nichts zu verbergen hab'."
KOMMENTAR:
Auch vor der öffentlichen Neugier verborgen: eine andere Frau aus Geyers Leben. Sie beklagt Aggressivität sogar bei den Vernehmungen.
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COSIMA A.:
"Also ich wurde angeschrien, und ich bat also einen Polizisten, daß ich ein Herzmedikament, ein Herzberuhigungsmittel nehmen dürfte, weil ich nach drei schweren Operationen manchmal nervöse Herzbeschwerden hätte, und er sagte mir klipp und klar: Sie haben hier nichts zu wünschen und nichts zu wollen, jetzt haben Sie viel Zeit."
KOMMENTAR:
Vorigen Sonntag, Gottesdienst in Klaus Geyers Gemeinde - diesmal in der Friedhofskirche von Uhry. Die Gläubigen schwanken zwischen Verdammnis und Vergebung, die Gemeinde ist zerrissen.
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GEMEINDEMITGLIEDER:
"Daß er sie umgebracht hat, das glaube ich nicht, das kann ich nicht glauben."
"Nee, aber die Frauengeschichten und alles andere reichen ja schon hin."
"Aufgrund seines Vorlebens, das im Laufe des Prozesses zutage gekommen ist, denke ich mal nicht, daß er hier noch mal gut Fuß fassen wird."
"Aus meiner Sicht kann ich sagen, also es gibt genügend Leute, die ihn mögen und auch immer noch mögen. Und ich würde da also keinen Hinderungsgrund sehen, daß Klaus Geyer nach Beienrode zurückkehrt, im Gegenteil: ich würde mich freuen, denn hier ist seine Heimat."
KOMMENTAR:
Aber die meisten in Beienrode haben mit Klaus Geyer abgeschlossen, auch ohne Richterspruch. Was im Prozeß herauskam, reicht ihnen.
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ROSEMARIE TETZLAFF:
(Bürgermeisterin)
"Also ich bin wirklich der Überzeugung, daß das Ehepaar Geyer richtig auf einen Sockel gehoben wurden und dort für die Menschen also etwas besonderes gewesen sind und unerreichbar. Und nun haben sie festgestellt, daß das auch nur Menschen sind, und nun, ja, ich möchte bald sagen, nun spucken sie drauf, und das ist nicht in Ordnung."
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HERBERT KOCH:
(Superintendent Wolfsburg)
"Die Zehn Gebote sind nicht für die Pfarrer gemacht - für die auch, aber nicht in besonderer Weise, sondern für alle."
KOMMENTAR:
Es ist immer frisch bepflanzt, das Grab von Veronica Geyer-Iwand, aber nur noch wenige kommen dorthin. Das Dorf will vergessen, zur Ruhe kommen - und schafft es nicht.
Abmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Das irdische Spektakel um den Gottesmann hat demnächst wohl ein Ende, das Urteil wird nun in der kommenden Woche erwartet.