Sendedatum: 30.01.1997 21:00 Uhr

Zwischen Alptraum und Selbstmord - Soldaten nach dem Kriegseinsatz

von Bericht: Gunnar Köhne und Klaus Scherer

Anmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

"Ich habe um mein Leben gekämpft, und als ich wieder nach Hause kam, merkte ich, daß ich es längst verloren hatte." Das sagte ein amerikanischer Soldat nach seiner Rückkehr aus dem Vietnam-Krieg. Gleichgültig, auf welcher Seite sie gekämpft haben: Die Akteure des Kriegswahnsinns kommen als zerlumpte Opfer zurück auf ein zweites Schlachtfeld, auf dem sie fast immer verlieren. Ein normales Leben nach dem Krieg wird es für sie nicht mehr geben.

VIDEO: Zwischen Alptraum & Selbstmord: Soldaten nach Kriegseinsatz (9 Min)

Gunnar Köhne und Klaus Scherer haben türkische Soldaten kennengelernt, die einen brutalen Kampf gegen Kurden im eigenen Land überlebt haben. Und damit werden sie nicht fertig.

KOMMENTAR:

Das ist das Grab des Gefreiten Ali Riza Aker, gestorben nach dem Kriegseinsatz durch Selbstmord. Das war, so erzählt uns sein Vater, im Oktober letzten Jahres. Jeden Tag kommt er seitdem hierher. Zu Hause erzählt er uns die Geschichte seines Sohnes. Alle seien stolz gewesen damals, als er zum Militär ging. Doch als er zurückkam, war er ihnen fremd geworden.

0-Ton (Übersetzung)

HÜSAMETTIN EKER: (Vater)

"Ich fand ihn, mit schwarzen Ringen unter den Augen, alleine in einem Café in der Stadt. Tagelang hatte ich ihn gesucht, weil er sich nicht gemeldet hatte. Er hat immer nur vor sich hingestarrt, hat überhaupt nicht geredet. Wir kamen nach Hause, wo seine Verlobte und seine Freunde mit ihm feiern wollten. Er ging in sein Zimmer und wollte niemanden sehen. Er saß da wie ein Roboter.

Eines Tages sind wir aufs Feld gegangen, da sagte er auf einmal: 'Vater, was soll ich hier, ich hab hier nichts verloren.' 'Wo willst du hin', fragte ich. 'Zurück zu meinen Freunden', sagte er. Ich dachte, er meint das Militär, und sagte: 'Was willst du da?' Da wußte ich noch nicht, daß er in den Tod gehen wollte.

Ich sagte: 'Du kannst nicht dahin zurück, du mußt Ruhe finden.' Dann sagte er ganz streng: 'Vater, jetzt hör' mir mal zu, ich habe 35 Leute umgebracht.' Ich sagte: 'Mein Sohn, im Krieg kommt sowas vor.' Da hat er gesagt: 'Aber diese Leute waren genauso Menschen wie ich.' Und hat mich stehen lassen."

KOMMENTAR:

Er ging nach Hause und schoß sich eine Kugel in den Kopf. Ende eines Kriegstraumas - eines Traumas, von dem die wenigsten Soldaten zu Beginn der Dienstzeit ahnen, daß es das überhaupt gibt. Denn von den Kommandeuren hat es ihnen keiner gesagt. Das ist in jedem Krieg so, also auch hier, in den Bergen im Südosten der Türkei.

Hunderttausende türkischer Soldaten sind durch diesen Krieg gegangen. Tausende sind umgekommen, auf Seiten der Armee und gegenüber, auf Seiten der PKK, der kurdischen Guerilla. Doch Kriege hinterlassen nicht nur Leichen.

Besuch in der Militärischen Akademie für Medizin in Ankara, einem Krankenhaus der Armee. Hier sind jene, die die Schlacht zwar überlebt haben, aber zu einem hohen Preis. Was man hier sehen kann, sind äußere Verletzungen, was man nicht sieht, sind die Verletzungen der Seele. Doch auch die sind den Militärs bekannt: dank einer Geheimstudie, erstellt vom Generalstab selbst, eine Studie - wie es heißt - über Streß-Störungen im Zusammenhang mit dem Konflikt. Häufigster Befund bei den befragten Patienten ist - Zitat - "antisoziales Verhalten". Symptome unter anderem: kein Zukunftsglaube mehr, sich entfernen von seinen Mitmenschen, Gefühl, in ständiger Bereitschaft zu sein, Schuldgefühle, Wutausbrüche.

Wir sind verabredet in Istanbul mit einem jungen Angestellten, der weiß, was mit alledem gemeint ist. Er redet nicht offen, denn was er schildert, könnte in einem Land im Bürgerkrieg als Wehrkraftzersetzung gelten. Der Mann war Offizier in der Armee, und er erzählt davon, was Krieg aus Menschen macht:

"Unser erster Einsatz war ein Kontrollgang durch ein Dorf. Es fielen Schüsse, wir gingen in Deckung. Dann kroch ich auf einen zu und sah, daß er tot war. Drei Schüsse in die Brust. Ich lag nur da und starrte. Dann kommt Wut. Und Freude, wenn du die Leichen der anderen Seite zählst. Irgendwann ist es wie ein Spiel: Wir haben gewonnen, ihr habt verloren."

"Ich wurde zum haßerfüllten Menschen, der nur noch töten will. Und ich fing an zu träumen, daß meine Familie bei mir ist, ein Schuß fällt und sie alle am Boden liegen. Ich sehe, daß sie tot sind, und wache auf, jede Nacht, immer der gleiche Traum."

"Später wollte ich mich rächen für all die schlimme Erfahrung. Entweder das oder mich umbringen. In mir war so viel Gewalt, daß ich meine Mutter anschrie, nur weil sie mich weckte. Ich habe meine Stereoanlage zertrümmert. Sogar meinen Bruder, den ich über alles liebe, habe ich geschlagen, so sehr, daß wir ihn ins Krankenhaus bringen mußten."

Die Suche nach Erklärungen führt uns an die Universität in Istanbul, zu einer Professorin für Psychiatrie. Solche Symptome, sagt sie, sind typisch, typisch für Soldaten.

0-Ton (Übersetzung)

PROF. SAHIKA YÜKSEL: (Universität Istanbul)

"Wenn Sie kämpfen, müssen Sie mißtrauisch sein, ständig Gefahren abschätzen. Genau das können die Soldaten nach dem Kriegseinsatz oft nicht mehr abstellen. Das heißt, ihr Mißtrauen arbeitet weiter, es wertet jede Geste als einen Angriff."

KOMMENTAR:

Wir fragen, was sie von der Studie hält, warum das Militär sie wohl erstellt hat.

0-Ton (Übers.) PROF. SAHIKA YÜKSEL:

"Sie wollen die Kontrolle behalten, auch über die Schwächen der Armee. Das ist die erste Studie des Militärs, die solche Probleme einräumt. Ich finde das bemerkenswert, auch wenn das offiziell keiner bestätigt. Ich hatte nach der Studie gefragt, aber keine Antwort bekommen. Geheimhalten ist auch eine Art, etwas zu verdrängen. Wenn zu uns jemand kommt wegen Alpträumen oder Aggressionen, fragen wir als erstes, ob er beim Militär war."

KOMMENTAR:

Wir treffen einen weiteren ehemaligen Soldaten, der uns mehr erzählen möchte, in der Nähe von Izmir in einer Stadtwohnung. Besonders ein Erlebnis läßt ihn nicht mehr los:

0-Ton (Übers.)

SOLDAT:

"Ich hab gesehen, wie auf meinen Freund geschossen wurde. Dann rief er meinen Namen, er rief: Hilf mir, hilf mir. Diese Rufe höre ich immer noch, und ich habe Angst, auf die Straße zu gehen, kann nicht mehr arbeiten. Ich denke, jeder will mich umbringen. Das geht seit vier Jahren so. Einer, der nicht dort war, kann sich kein Bild über den Krieg machen. Erst wenn man dort war, weiß man es. Das ist es, was ich denke. Ich habe um mich geschlagen, konnte nicht mehr denken. Die Kommandeure haben nur gesagt: Schafft den weg."

KOMMENTAR:

Presserummel in Ankara. Der Militärchef, General Karadaye, zeigt sich in der Armeeklinik - ein Mann, der würdigt, welche Opfer die Soldaten ihrem Vaterland gebracht haben. Für ihn nebenbei auch ein gelungener PR-Termin. Nach zwölf Kriegsjahren - offiziell noch immer nur eine Art Sondereinsatz gegen ein paar PKK-Terroristen - nach zwölf Kriegsjahren macht sich ein bißchen Realismus gut. Zumal immer mehr Menschen im Lande - wenn auch manchmal ganz still - ihren Wunsch nach Frieden deutlich machen.

Das ist eine Freitagsmutter, eine der Mütter gefallener Soldaten. Ihr wöchentliches Treffen an den Gräbern ist eine Anti-Kriegs-Aktion.

Das sind die Samstagsmütter, Mütter verschwundener Kurden. Ähnliche Gesichter, ähnliche Mahnungen, endlich einzusehen, daß dieser Bruderkrieg schon lange keinen Sinn mehr macht.

Unterdessen wartet hier, zwischen den Armenhütten in den Slums von Istanbul, ein anderes Kriegsopfer darauf, daß seine Geschwister wieder etwas Geld zusammen haben, für seine Tabletten und für Elektroschocks, denn die Armee bezahlt so etwas nicht.

0-Ton (Übers.) SOLDAT:

"Ich habe Zitteranfälle, eine Psychose, sagt der Arzt. Als mich mein Bruder vom Militär abholte, da haben wir einen ausgebrannten Jeep gesehen, darin saßen zwei tote Freunde von mir. Wenn meine Mutter mich nicht mehr halten kann, bringen sie mich ins Krankenhaus. Nach den Elektroschocks geht es mir wieder besser. Das Militär müßte mir eigentlich helfen, denke ich, denn unser Geld reicht nicht. Ja, eigentlich müßten die mir helfen."

KOMMENTAR:

Unsere Anfrage bei der Armee blieb ohne Reaktion. Wir wollten wissen, wieviele Soldaten, die einmal so in den Einsatz zogen, heute wohl unter derartigen Problemen leiden.

0-Ton (Übers.) PROF. SAHIKA YÜKSEL: (Universität Istanbul)

"Meines Wissens sind inzwischen annähernd 300.000 Rekruten aus dem Kriegsgebiet zurückgekommen. Ich schätze, daß etwa zehn Prozent von ihnen ernsthafte psychische Probleme haben. Und selbst wenn der Krieg heue zu Ende wäre, würde das noch Jahre anhalten."

0-Ton (Übers.) HÜSAMETTIN EKER: (Vater)

"Sie könnten mir das Haus voller Goldbarren stapeln, es würde mich nicht weniger traurig machen. Unser Sohn ist tot, wir haben keine Freude mehr am Leben. Wenn ich abends die Nachrichten vom Krieg im Fernsehen sehe, bekomme ich nur Gänsehaut. Und nachts gehe ich manchmal raus aufs Feld und schreie alles, was mir einfällt, alles aus mir heraus."

KOMMENTAR:

Bevor wir gehen, zeigt er uns das Verlobungsbild von Ali und seiner Braut und den Platz, wo er ein Haus bauen wollte für die beiden. Er wird es trotzdem bauen, vielleicht für seinen zweiten Sohn, wenn der zurückkommt vom Militär. Denn er wird gehen wie alle, sein Einberufungsbescheid kommt demnächst.

Abmoderation

PATRICIA SCHLESINGER:

Verletzte Seelen, diesmal in der Türkei. Weltweit gibt es zur Zeit über fünfzig Kriege und bewaffnete Konflikte.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 30.01.1997 | 21:00 Uhr

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