Russen in den Kongo
Anmoderation:
PATRICIA SCHLESINGER:
Unseren Behörden sagt man ja nur zu gerne nach, daß sie in erster Linie von Langsamdenkern und Paragraphenreitern verwaltet werden. Eigenständige und unbürokratische Lösungen sind der Beamten Sache nicht - so denken wir. Daß das auch ganz anders geht, zeigt uns ein zukunftsweisender Fall aus dem Brandenburgischen.
Andreas Hilmer und Christian Rohde erzählen diese fast unglaubliche Geschichte zwischen geographischem Heimathimmel und behördlichem Niemandsland.
KOMMENTAR:
Die russische Familie S. in der Warteschleife. Ihr Asylantrag ist längst abgelehnt, seit Jahren sollen sie "irgendwohin nach Hause reisen", doch ohne Paß wissen sie kaum, wohin das denn sein soll. Und auf diesen Fluren plant man von Amts wegen die Aktion "Gebt den Russen Heimat". Doch im Wirrwarr alter und neuer Staatengebilde ist eine Abschiebung auch für Behörden oft verhältnismäßig unübersichtlich.
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ANNEGRET ORTLING: (Innenministerium Brandenburg)
"Die Familie stammt aus Weißrußland, es sind aber wohl lettische Volkszugehörige, sie haben auch mal in Lettland gelebt, sind also von Lettland ins Bundesgebiet eingereist."
KOMMENTAR:
Lettland allerdings nimmt Familie S. heute überhaupt nicht mehr zurück, da sie wohl gebürtige Weißrussen sind, und Weißrußland wiederum würde zwar Frau S. aufnehmen, allerdings nur ohne Ehemann und Kind, weil die noch woanders geboren sind. Bei der behördlichen Suche nach einem "Rückführungsland mit europäischem Kulturhintergrund" betrat man in Potsdam mutig "abschiebetechnisches Neuland".
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KARIN GROCHOWSKI-DIEHL: (Ausländerbehörde Potsdam)
"Wir haben die verschiedensten Länder mit deutschsprachigem Raum, deutschsprachigem Kulturkreis angesprochen, auch hier allerdings also Nordamerika, Südamerika, aber auch zum Teil asiatischen Raum angefragt."
KOMMENTAR:
Die innerbehördliche Telefonaktion "Neue Heimat für Familie S." erfaßte 25 Konsulate.
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KARIN GROCHOWSKI-DIEHL:
"Dann wird optiert: ja - oder wurde erklärt: nein, wir haben keine Möglichkeit dafür."
INTERVIEWER:
"Welche Länder haben ja gesagt?"
KARIN GROCHOWSKI-DIEHL:
"Diese zwei Länder."
INTERVIEWER:
"Können Sie die nicht mal sagen?"
KARIN GROCHOWSKI-DIEHL:
"Ja, der Kongo und Zaire, diese zwei Länder haben das erklärt, ja."
KOMMENTAR:
Russen ab in den Kongo? Als diese Früchte deutschen Behördenfleißes Familie S. und ihre Sozialarbeiterin erreichten, waren die erst ungläubig.
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LARISSA S.: (Flüchtling)
"Da steht: Beendigung, und kann man nicht weiter klagen. Und da steht: Zwangsweise nach Zaire bzw. Kongo."
INTERVIEWER:
"Kannten Sie Zaire und Kongo?"
LARISSA S.:
"Nee."
KOMMENTAR:
Zaire und Kongo - nach Meinung der Ausländerbehörde Potsdam wohl zwei Länder mit europa-ähnlichem Kulturkreis, in die man Familie S. gefahrlos abschieben kann, ergänzt eine Empfehlung des Auswärtigen Amtes.
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KARIN GROCHOWSKI-DIEHL
"Es steht zumindest darin, daß, bezogen auf die eigenen Landsleute, es nicht zu sofortigen Verhaftungen kommt, wenn der Flughafen betreten wird, also das Aussteigen aus dem Flugzeug erfolgt ist."
INTERVIEWER:
"Das heißt für die russische Familie, die aus dem Flugzeug aussteigt, wird sie nicht verhaftet?"
KARIN GROCHOWSKY-DIEHL:
"So könnte man es auch interpretieren, ja."
KOMMENTAR:
Treu ihrer Mitwirkungspflicht folgend macht sich Familie S. schon mal mit dem Basiswissen ihrer neuen Heimat vertraut. Da schaltet sich dann doch das Innenministerium ein und stoppt die Aktion "Russen nach Schwarzafrika".
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ANNEGRET ORTLING:
"Also ich glaube, daß die Unabhängigkeit der beiden Länder doch schon so lange zurückliegt, daß man da nur noch wenig europäisches und europäische Bezüge verspüren dürfte."
KOMMENTAR:
Die Heimatsuche für Familie S. geht also in die nächste Runde, denn Potsdams Behörden spielen wohl weiter Abschiebeländer-Raten. Die Familie ohne Heimat und Pässe erwartet neue unbürokratische Ideen, und eins ist von der Idee "Russen an den Äquator" geblieben:
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LARISSA S.:
"Ich hab' geträumt viele Zebras, Krokodile, ja, wirklich, ich konnte ein paar Nächte gar nicht schlafen."
