Sendedatum: 30.01.1997 21:00 Uhr

Cindy darf nicht Cindy sein - Wahnsinnige Politik um ein verrücktes Rind

Anmoderation

PATRICIA SCHLAESINGER

Wir alle kennen Cindy, unsere erste deutsche BSE-Kuh und vermutlich auch das erste Rindvieh, dem man die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennen will. Die Kuh muß vom Eis, eine Wahnsinnige kann keine Deutsche sein. Seit Cindy und ihre möglicherweise rinderwahnsinnige Familie deutsche Bauern und Behörden beschäftigt, kommt es landauf, landab zu irrsinnigem Verhalten. Landwirtschaftsminister Borcherts neueste Erkenntnis der Rinder-Ahnenforschung: Cindy hat Doppelgänger, es gibt sie mindestens dreimal. Hatte man uns Fleischessern nicht immer wieder versichert: Alles unter Kontrolle, von der Weide bis zur Wursttheke? Meine Kollegen sind dieser Gehirnerweichung nachgegangen.

VIDEO: BSE-Kuh: Cindy darf nicht Cindy sein (10 Min)

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DR. WOLFGANG THIEL: (Veterinär-Untersuchungsamt Detmold)

"Das wäre das, was wir über haben, so in etwa, mehr ist nicht mehr da."

KOMMENTAR:

Das ist der Rest von Cindy's Gehirn.

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DR. WOLFGANG THIEL:

"Das sind kleinere Teile. Das wäre so ein Stammhirnteil, wo die Veränderungen meistens am besten sich darstellen."

KOMMENTAR:

Dr. Thiel freut sich über jeden Fetzen, über alles, was von der BSE-Kuh noch übrig ist. Kein Zweifel daran, daß dieses Hirn infiziert ist, die Löcher im Gewebe sind nicht zu übersehen. Nur: war es wirklich Cindy, der dieses Schwammhirn gehörte? Seit Wochen rätselt die Republik. Bei der ersten Leichenbeschau schien eigentlich noch alles klar zu sein.

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CLAUDIA BINDL: (Veterinäramt Höxter)

"Ich habe die Ohrmarken abgelesen. Das Tier Cindy hatte - wenn es Cindy war, natürlich - hatte im rechten Ohr eine amtliche gelbe Plastikohrmarke. Auf dieser Plastikohrmarke war dann eine Nummer eingetragen. Diese Nummer entsprach der Herdbuchnummer des Tieres in der Zuchtbescheinigung."

KOMMENTAR:

Eine Kuh, eine Marke und eine Zuchtbescheinung, die dazu paßt, so soll es sein. Aber mit der BSE-Kuh Cindy ist der Wahnsinn auf die Weide gekommen. So eine Marke trug auch Cindy im Ohr, trotzdem nichts als Rätsel. Erst sollte Cindy Cindy sein, dann ihre eigene Mutter, jetzt soll sie Rita heißen - vielleicht. Gleich drei Rinder unter Cindy's Nummer, sagt der Minister gegenüber PANORAMA, Achtung, genau aufpassen.

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JOCHEN BORCHERT: (Bundeslandwirtschaftsminister)

"Unsere Nachprüfungen in Mecklenburg-Vorpommern haben ergeben erstens, daß die Kälber, die geboren sind, etwa ein Jahr später gekennzeichnet worden sind. Und ein Jahr später ist bei gleich aussehenden Kälbern es erstens schon sehr schwer möglich, überhaupt festzustellen, welches Kalb wozu gehört. Zweitens gibt es in den Zuchtbescheinigungen bei mindestens drei unterschiedlichen Zuchtunterlagen die gleiche Ohrmarke, jeweils mit Bleistift eingetragen. Und es gibt darüber hinaus auch die gleiche Ohrmarke bei einer Kuh Rita, die aus Großbritannien importiert worden ist. Und wenn ich dann drei unterschiedliche Hinweise habe auf diese Ohrmarke bei drei unterschiedlichen Tieren, dann läßt sich von daher nicht mehr definitiv sagen, welches von den drei Tieren ist denn nun Cindy?"

KOMMENTAR:

Alles klar mit Cindy? Eigentlich geht es doch nur um eins: Stammt die BSE-Kuh aus Deutschland und hätte sich hier angesteckt, wären die Folgen fatal: mit einem Schlag wäre Deutschland BSE-Land, der Rindfleischmarkt bräche zusammen. Wie einfach dagegen, wenn die tote Cindy eine Engländerin wäre, also etwa Rita, irgendwann hierher importiert, dann können die Deutschen weiterhin behaupten, daß in ihrem Land sich keine Kuh mit BSE infizieren kann. Eines ist aber heute schon sicher: Auf den Weiden dieses Landes herrscht das Chaos. Drei Tiere, eine Nummer, Null Kontrolle.

Zentrum des Irrsinns, der Landkreis Demmin in Mecklenburg-Vorpommern. Hier ist Cindy geboren. Und diese Weide wird seit gestern vom Wach- und Schließdienst abgeschirmt. Sperrgebiet für Reporter.

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INTERVIEWERIN:

"Und können wir da mal rauf?"

MANN:

"Hier aufs Gelände, nein."

INTERVIEWERIN:

"Und warum nicht?"

MANN:

"Hat uns der Chef untersagt. Wir müssen jeden zurückhalten."

KOMMENTAR:

Ganz in der Ferne ist offenbar ein Amtstierarzt zugange. Alles streng geheim. Es geht um diese Galloways. Bis heute suchen die Behörden verzweifelt Cindy's Freunde und Freundinnen. Keiner weiß Bescheid. Die Seuche, die hier grassiert, so scheint's, ist der Behördenwahnsinn. Kann es sein, daß Cindy noch lebt? Und überhaupt: wo ist Cindy's Herde hin? Wer ist Rita, und wo ist sie?

Ein getötetes Galloway, womöglich Cindy, wird hier abtransportiert, zur Identifizierung. Dabei stand die Herde wegen BSE eigentlich unter Beobachtung der Veterinärbehörde hier in Demmin, aber die hat Cindy schon vor Jahren aus den Augen verloren.

Rückblick: Hier wuchs die angebliche Cindy auf. Der Bio-Bauer Meyer-Bodemann. Bilder aus glücklicheren Zeiten, 1992. Drei Jahre später geht der Hof in Konkurs, Meyer-Bodemann ist sterbenskrank, kann sich um den Betrieb nicht mehr kümmern, stirbt kurz darauf.

Das ist die Zeit, in der Cindy verkauft wird. Auf dem Hof geht es drunter und drüber. Im Mai 1995 werden acht Galloways, darunter die BSE-Kuh, hier auf die Rampe getrieben und verkauft. Der Veterinärbehörde wird dieser Verkauf nicht gemeldet, obwohl es gesetzlich vorgeschrieben ist.

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ROLF PIETSCHKE: (Veterinäramt Demmin)

"Fest steht jedenfalls, daß dieses Tier im Rahmen einer ungesetzlichen, d. h. nicht genehmigten, Handelsaktion im Jahre 1995 den Landkreis Demmin verlassen hat."

KOMMENTAR:

Das war dem Amt seit Sommer 95 bekannt, aber offenbar änderte sich nichts. Unter der sogenannten amtlichen Beobachtung gingen noch weitere Tiere verloren. Mit Ohrmarken und Papieren wurde offenbar wird jongliert. Aber est jetzt hat die Veterinärbehörde Demmin Strafanzeige gestellt. Dazu der Staatsanwalt vor zwei Stunden zu PANORAMA:

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HORST MÜLLER-PRAEFCKE: (Oberstaatsanwalt)

"Also wir prüfen jetzt diese Strafanzeige. Daraus ergibt sich, daß das Veterinäramt vor einigen Tagen bei der Kontrolle des früheren Öko-Hofes bei Wagun auf ein Rind gestoßen ist, dessen Ohrmarke vertauscht war. Dadurch sollte offenbar die englische Herkunft dieses Rindes verschleiert werden. Nach der Strafanzeige besteht der Verdacht, daß hier aus einem englischen Rind ein deutsches Rind gemacht werden sollte. Und wir vermuten und ermitteln auch in der Richtung, ob solche Manipulationen schon früher vorgekommen sind."

KOMMENTAR:

Also vielleicht auch bei Cindy? Die BSE-Kuh ging jedenfalls im Sommer 95 auf Reisen. Fernab jeder behördlichen Kontrolle stand sie dann beim Viehhändler Jobst in Bayreuth. Nur acht Wochen grasten die Galloways auf den fränkischen Wiesen. Trotzdem: Jeder, der mit der BSE-Kuh in Berührung kam, muß heute schmerzlich erfahren, wie eine Kuh das Leben verändern kann.

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REINER JOBST: (Tierhändler)

"Da waren Morddrohungen am Telefon ausgesprochen, dann sind alle Leut' verärgert noch, das ist doch nicht normal. Dann kriegt man schlechte Briefe noch geschickt, anonym."

INTERVIEWER:

"Was steht da drin, was sagen die?"

REINER JOBST:

"Was steht da drin? Ich soll verrecken an BSE und lauter so Zeug."

KOMMENTAR:

So kann es gehen.

So aber auch. Vorhang auf für den letzten Cindy-Besitzer, Hans-Jürgen Mikus. Der erhält dieser Tage von Pastor Fliege die Weihen des "daily talk". Neben Eltern vermißter Kinder darf er über Cindy sprechen.

0-Ton Talkshow

JÜRGEN FLIEGE:

"Ich kann mir vorstellen, daß in einigen Jahren Ihr Name immer noch bekannt ist, das war das Rind von Mikus."

KOMMENTAR:

Ja, Cindy war auch das Rind von Mikus und starb auf seinem Hof, und deshalb verwandelte sich sein Hof bei Höxter auch zu einer Art Pressebüro. Rund zweihundert Anrufe täglich, immer wieder Interviewanfragen und Briefe ohne Ende. Von Drohung keine Spur, es ist eher Mitleid, das ihn trifft.

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HANS-JÜRGEN MIKUS: (Landwirt)

"Viele schreiben auch: Wir würden bei Ihnen sofort Fleisch kaufen, fangen Sie wieder damit an. Ich will's gerne tun, aber -."

KOMMENTAR:

Die Nachbarn würden es nicht gerne sehen. Mikus BSE-Cindy hat auch ihren Ruf zerstört. Unerfahren und leichtgläubig habe der junge Mikus sich auf den Bayreuther Viehhändler eingelassen, ein Anfängerfehler.

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NACHBARN:

"Es war doch Dummheit, Gutmütigkeit."

"Auf deutsch gesagt, den haben sie angeschissen. Der ist gutgläubig, der ist nicht schlecht, wir wollen den nicht schlecht machen, aber der ist zu gutgläubig. Uns kriegen Sie aufs Eis so leicht nicht drauf, da brauchen Sie keine Bange haben, nicht mit so'm alten Fuchs."

"Der ist zu gut, wenn einer sagt: Hier, mußt das machen, dann glaubt er das."

KOMMENTAR:

Geglaubt wird so einiges in Sachen Cindy und BSE. So haben die Deutschen bisher geglaubt, Verordnungen würden sie vor BSE-Rindern schützen, aber Verordnungen haben Lücken. In vielen Bundesländern hätten Rinder wie Cindy geschlachtet werden können, das räumt jetzt sogar der Minister ein.

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JOCHEN BORCHERT: (Bundeslandwirtschaftsminister)

"Hier standen die Tiere zwar unter Beobachtung, aber sie hätten geschlachtet werden können."

KOMMENTAR:

Beobachten, aber trotzdem schlachten. Die Kundschaft hätte das BSE-Fleisch dann sozusagen unter amtlicher Beobachtung verspeisen können. Aber zum Glück kam Cindy nicht auf den Teller, sondern unters Mikroskop. Es war Dr. Thiel aus Detmold, der Cindy das Hirn entnahm. Damals hätte er leicht sehen können, ob Cindy aus England stammt, doch leider Gottes hat er Cindy's Kopf nicht mehr, und was noch viel schlimmer ist: er hat versäumt, bei der Obduktion das genaue Alter und sonstige Kennzeichen festzustellen.

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INTERVIEWERIN:

"Warum haben Sie den Kopf nicht genauer untersucht und das notiert im Obduktionsbericht?"

DR. WOLFGANG THIEL: (Veterinäruntersuchungsamt Detmold)

"Das ist im Prinzip die Routine, wie sie da gelaufen ist, die für den normalen Fall reicht."

KOMMENTAR:

Aber Cindy war nicht der Normalfall. Ein letztes Mal war die BSE-Kuh durch die Maschen der Behördenroutine gerutscht. Ihr verseuchter Kadaver wurde in die Tiermehlverarbeitung geschickt und hier kurzerhand auf 130 Grad erhitzt - das endgültige Aus für die BSE-Erreger. Die Fabrik wollte das Tiermehl gerade zum Verfüttern an die Fische freigeben, als die Behörden Cindy endlich stoppten. Jetzt soll die pulverisierte BSE-Kuh verbrannt werden. Purer Wahnsinn, findet der Direktor.

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MANFRED BRUNNER: (Tierkörper-Beseitigungsanstalt Detmold)

"Eigentlich finde ich es schade, denn das ist ein wertvolles Eiweißfuttermittel, das Sojaschrot und Fischmehl in der Futtermischung ersetzen kann, das ist absolut ungefährlich."

KOMMENTAR:

Aber jetzt lassen die Behörden Cindy nicht mehr entkommen. Gut gesichert hinter Gittern wartet Cindy als Tiermehl auf ihre Verbrennung.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 30.01.1997 | 21:00 Uhr

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