Arbeitsplatz Sozialamt: Zwischen Frust und Mitleid
Anmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Über die Arbeitsmarktkatastrophe haben wir in den vergangenen Wochen schon so einiges gehört und gesehen. Fast jeder achte hat keinen Job, in den neuen Ländern sogar nahezu jeder fünfte. Viele von den Arbeitswilligen, die so aus unserer Leistungsgesellschaft ausgesperrt wurden, finden sich am Ende beim Sozialamt wieder. Und dort? Verzweiflung auf beiden Seiten des Schreibtisches, bei den Empfängern staatlicher Gaben und bei denen, die sie zu verwalten haben. Die Mitarbeiter im Sozialamt haben zwar Arbeit - aber was für eine.
Deutschland ganz unten - von Klaus Scherer.
KOMMENTAR:
Kurz vor acht Uhr früh am Stadtrand von Berlin. Für Karsten beginnt der Arbeitstag, der Arbeitstag im Spandauer Sozialamt. Mehrere hundert Leute werden heute wieder kommen, fast die Hälfte mehr als noch vor zwei Jahren, vorbei an der Imbißbude, hinauf in die Amtsstuben.
Zum Beispiel: eine frühere Schneiderin mit eigener Firma, ein ehemaliger Metzger aus dem Berliner Schlachthof, ein bis vor kurzem selbständiger Fußbodenleger, ein Arbeiter der Stadtreinigung und eine Verkäuferin bei Karstadt - bis ihr der Konzern gekündigt hat, so wie vier anderen aus ihrer Klasse auch, kurz vor dem Ende ihrer Lehre. Alltag im Sozialamt:
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KARSTEN RUTHARDT: (Sachbearbeiter)
"Betreffs dieses Antrags - das gucke ich mir nach der Sprechstunde an, ich werde versuchen, es in den nächsten Tagen zu bearbeiten."
KOMMENTAR:
Versuchen zu bearbeiten - so formuliert es Karsten immer öfter, denn im Sozialamt fehlt mehr als ein Drittel Personal - Stellenstopp in der Verwaltung. Während im Flur der Andrang steigt, jede Entlassungswelle draußen schlägt hier durch. Viele bekommen noch kein Geld vom Arbeitsamt, weil von ihrem letzten Arbeitgeber noch Papiere fehlen.
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KARSTEN RUTHARDT:
"Daß Firmen Konkurs gehen, wirkt sich natürlich sofort aus, die Leute sind natürlich auch hier, die haben dann unter Umständen auch schon zwei, drei Monate gar keinen Lohn bekommen."
KOMMENTAR:
Dazu kommen die Langzeitarbeitslosen, die keine Ansprüche ans Arbeitsamt mehr haben oder deren Ansprüche nicht reichen, vor allem nicht für hohe Mieten, die sie zwar früher einmal zahlen konnten, aber jetzt eben nicht mehr.
Am Monatsanfang gibt's hier nur noch Stehplätze, Massenabfertigung, die alle beklagen. Nicht nur Ungelernte landen hier inzwischen, auch Handwerker, auch solche, die es auf eigene Faust probierten.
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SCHNEIDERIN:
"Ich war selbständig sehr lange, aber ich bin nun Schneiderin von Beruf und Töpferin, und gucken Sie sich um: Schneiderinnen ist nichts, auf dem Arbeitsamt haben sie zu mir gesagt: Ist nichts. Da sag' ich: Wozu sitzen Sie denn noch hier? Ich würde alles machen, ich würde sogar putzen gehen. Da sagen die zu mir: Ja, ist nichts da."
FUSSBODENLEGER:
"Bei mir ist es natürlich zu Bruch gegangen wegen zu hoher Konkurrenz, auch aus anderen Ländern. Fußbodenleger - da war die Konkurrenz halt zu hoch. Auch aus anderen Ländern, sag' ich jetzt mal, die Preise, die konnte man nicht mehr mithalten."
METZGER:
"Arbeitsamt, arbeiten - Sie sind zu alt, gibt's nichts mehr. Kommen Sie mal in drei Monaten wieder, sagen sie. 25jährige, die suchen auch Arbeit."
KOMMENTAR:
Wer wirklich arbeiten will, der findet auch was, sagen viele draußen - ein Satz, der schon lange nicht mehr gilt, sagt Karsten - aus Erfahrung.
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KARSTEN RUTHARDT: (Sachbearbeiter)
"Das stimmt nicht, weil das ist natürlich abhängig auch vom Alter, sag' ich mal als Beispiel. Also es gibt einfach Leute, da passiert nichts mehr, die sind 48, 52, da kommt die beste Ausbildung, und es nützt nichts mehr, sie sind eigentlich nicht mehr unterzubringen."
KOMMENTAR:
Doch auch die Jungen werden mehr. Karstens Tischnachbar ist hier zur Ausbildung. Früher war das Sozialamt für ihn eine fremde Welt, inzwischen ist das anders.
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LEHRLING:
"Vorher hat man eigentlich gar nichts damit zu tun gehabt, zur Schule gegangen. Und jetzt bekommt man's erstmal mit, grade wenn man in dem Bezirk aufgewachsen ist, und wen man hier alles wiedertrifft, aus der Schule, aus der Umgebung, aus dem Fußballverein. Es ist schon recht erschreckend."
KOMMENTAR:
Heute ist ein ruhiger Tag, alle sind relativ duldsam.
So sitzt man hier schon mal fünf Stunden oder mehr, nur um zu erfahren, daß der Betreuer keine Zeit mehr hat. Dann knallt's gelegentlich, und unten an der Pforte leuchtet die Alarmleitung aus dem betroffenen Büro direkt zur Polizei. Die Spannung, heißt es hier, ist angestiegen.
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"Früher waren vielleicht einer oder zwei dabei im Monat, die mal so'n bißchen rumgemacht haben, und das hat man irgendwie weggesteckt. Aber jetzt kommen eben zehn Leute oder zwanzig Leute pro Tag, und davon ist die Hälfte aggressiv, und das steckt man natürlich auch nicht mehr so einfach weg. Und die Reaktion ist dann so - na, man schaukelt sich so hoch."
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KARSTEN RUTHARDT:
"Einer hat hier mal eine Waffe gezogen, es stellte sich hinterher raus, es war eine Spielzeugwaffe, aber ... Einer hat die Tür eingetreten, da war so eine neue Tür da drin. Das ist jetzt schon vermehrt aufgetreten, muß ich sagen, in letzter Zeit wird der Ton aggressiver. Ich denke auch, daß es auch teilweise daran liegt, daß wir überlastet sind und vielleicht nicht immer den richtigen Ton finden, das muß ich ganz ehrlich zugeben."
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ANGESTELLTE:
"Frauen, meistens Frauen halt mit Kindern, die fangen halt an zu weinen, naja, und dann mit den Türen schlagen und anschreien. Ich meine, es ist nicht schön, hier zu landen."
KOMMENTAR:
Und zu arbeiten auch nicht, sagt sie. Viele kommen schon zusätzlich am Wochenende, damit die Anträge nicht liegenbleiben. So kann es nicht weitergehen, sagt der Amtsleiter. Und das Geld reicht auch nicht mehr für alle. Mehrere zehntausend Mark Mietrückstände wurden hier im Einzelfall schon übernommen. Das hilft nicht nur Sozialhilfeempfängern, das stützt gelegentlich auch Wuchermieten.
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KLAUS KUNDT: (Behördenleiter)
"Wie soll ich denn heute jemandem sagen, such' dir zum Beispiel eine billige Wohnung oder eine billigere Wohnung, weil der Sozialhilfeträger eigentlich die Kosten nicht mehr übernehmen kann. Ich kann sie ihm ja nicht mal nachweisen."
KOMMENTAR:
Unterdessen hoffte er auf einen langen Winter, als Tagelöhner bei der Stadtreinigung.
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ARBEITER:
"Und jetzt bei dem Wetter - Schnee ist eh nicht, brauchen sie kaum noch Leute, also bedarfsmäßig wird man eingesetzt."
KOMMENTAR:
Nun will er einen Laden aufmachen - eine Idee, die andere auch schon hatten, eine von vielen.
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ARBEITER:
"Was ich angeboten habe beim Arbeitsamt, wurde mir abgelehnt. Grad das letzte Teil, hab' ich einen Drehkranführerschein beantragt, und den haben sie mir abgelehnt aus einer Rot-Grün-Schwäche im Auge. Und den Führerschein hab' ich aber."
KOMMENTAR:
Andere machten den Taxischein oder eine Wurstbude auf - vergeblich: der Markt ist eng geworden, überall. Natürlich hat man da auch Mitleid, sagt Karsten.
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KARSTEN RUTHARDT:
"An vielen Leuten nagt es, daß sie nicht gebraucht werden."
KOMMENTAR:
Und der Mann vom Imbiß sagt, daß sich die Leute hier mit der Zeit verändern, und schimpft über 180.000 Mark Übergangsgeld für Staatssekretäre:
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IMBISS-MANN:
"Wahrscheinlich wissen die Politiker keinen Bescheid, was hier unten los ist, hab' ich so den Eindruck."
Abmoderation
PATRICIA SCHLESINGER:
Wie lange hält das System Bundesrepublik eigentlich ein Klima aus, in dem Arbeitsplatzbesitzer immer mehr ausgestoßenen Habenichtsen gegenüberstehen?