Spionage mit Bleistift und Radiergummi
"Sie können der deutschen Regierung helfen", lautet der einleitende Satz auf dem Fragebogen in der afghanischen Landessprache Dari. "Sie können helfen, die Lage in Afghanistan besser einzuschätzen." Es werden nur ein paar Minuten Ihrer Zeit beansprucht, heißt es weiter. Das Ausfüllen des Fragebogens sei freiwillig. Und auf speziellen Wunsch hin würden die Angaben anonymisiert. Wenn man Wert darauf lege, werde der Datenschutz gewahrt. Der ausgefüllte Bogen könne dann bei der Heimleitung abgegeben werden.
Dann folgen Zustimmungsabfragen wie: "In den vergangenen Monaten sind die Preise für Grundnahrungsmittel in Ihrem Heimatort gestiegen ..." mit drei Antwortkästchen zum Ankreuzen: "nein", "ja, ein wenig gestiegen", "ja, stark gestiegen." Oder: "Die Leute in meinem Heimatort unterstützen die Taliban offen" mit den Antwortkästchen "ja" und "nein".
Absender: Hauptstelle für Befragungswesen
Der Fragebogen hat einen Absender: die "Hauptstelle für Befragungswesen, Wielandstraße 27, 90419 Nürnberg". Wer sich zu der Adresse begibt, um sich zu erkundigen, was das für eine Behörde ist, wird keine Antwort erhalten. Es ist vielleicht das diskreteste Amt in der Bundesrepublik Deutschland. Das Amt wird sogar abstreiten, zum Bundesnachrichtendienst zu gehören. Und der BND streitet ab, dass die Hauptstelle für Befragungswesen zu ihm gehört. Die Hauptstelle verteilt Fragebögen an Asylbewerber aus Ländern wie Somalia, Syrien und Afghanistan in den jeweiligen Landessprachen. Die ausgefüllten Zettel werden übersetzt und ausgewertet. An die Öffentlichkeit sollen diese Fragebögen eigentlich nicht gelangen.
Wer dem deutschen Staat über den Fragebogen hinaus zusätzliche Informationen geben wolle, könne sich melden, lautet ein Hinweis am Rande. Offenbar versuchen deutsche Agenten, so mit potentiellen Informanten ins Gespräch zu kommen, die sensible Auskünfte etwa über "feindliche Stellungen" oder den Aufenthaltsort von "Zielpersonen" erteilen können. Nach Recherchen von NDR und Süddeutscher Zeitung gibt der BND solche Informationen an die USA weiter. Sie können dann in die militärische Zielauswahl einfließen. Nach Informationen ehemaliger US-Militärs können "scheinbar banale Informationen reichen, ein Ziel zu bestätigen oder gar einen Tötungsbefehl auszulösen."
Jenseits möglicher Hinrichtungen durch Drohnen hat die Befragung von Asylbewerbern zu anderen katastrophalen Ergebnissen geführt. Legendär ist die Affäre um den irakischen Informanten mit Spitznamen "Curveball". Dieser kam 1999 als Asylbewerber nach Deutschland und tischte zuerst dem BND (und dann der Welt) die Mär von den biologischen Massenvernichtungswaffen in der Hand Saddam Huseins auf. Seine Hochstaplerkarriere begann in der Hauptstelle für Befragungswesen. Dort wurde man zuerst auf ihn aufmerksam. Später diente "Curveball" der Bush-Regierung als Hauptquelle für die Rechtfertigung des Krieges, weil der BND seine Auskünfte an die USA weitergeleitet hatte. In seinem denkwürdigen Plädoyer vor dem UN-Sicherheitsrat für den Einmarsch im Irak berief sich der damalige US-Außenminister Powell am 5. Februar 2003 auf "Curveball". Powell projizierte Zeichnungen von "rollenden Todeslaboren" an die Wand, die sich später als Erfindungen des vermeintlichen Chemieingenieurs entpuppten.
Aber nicht immer endet die Arbeit der Hauptstelle für Befragungswesen in solch historischen Höhepunkten. Einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Energie scheint die Behörde in die Bearbeitung ziemlich absurder Fragebögen zu stecken, die sie an Asylbewerber aus Ländern wie Somalia, Syrien und eben Afghanistan in den jeweiligen Landessprachen verteilt. Die ausgefüllten Zettel werden übersetzt und ausgewertet. An die Öffentlichkeit sollen die Fragebögen eigentlich nicht gelangen. Panorama liegt ein aktuelles Exemplar in der afghanischen Landessprache Dari vor.
Flüchtlinge als nachrichtendienstliche Quelle
Im Lichte der Diskussion über das millionenfache Abfangen und Speichern persönlicher Fernkommunikation mittels hochentwickelter Spähsoftware durch die Geheimdienste mutet diese Form der Informationsgewinnung eher steinzeitlich an: Die Informanten füllen zwei Bögen aus, mit Bleistift oder Kugelschreiber, doch sie sollen Aufschluss geben auf keine geringere Frage als diese: Quo vadis Afghanistan?
Wer einmal an der Küste einer griechischen Ägäisinsel unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Afghanistan angetroffen hat - ausgehungert, krank und mit angstvollem Blick, Jugendliche, die weder lesen noch schreiben können, Kinder, die Krieg und Verlust hinter sich haben - der fragt sich, worin der nachrichtendienstliche Mehrwert der ausgefüllten Bögen wohl bestehen könnte. Rund 7.000 Flüchtlinge aus Afghanistan gelangen jährlich nach Deutschland. Damit erklimmt das Land am Hindukusch in den deutschen Asylbewerberstatistiken regelmäßig einen der vorderen Plätze. Wenn Deutschland die Flüchtlinge schon versorgen muss, dann sollen sie wenigstens als nachrichtendienstliche Quellen dienen, scheint sich die Hauptstelle für Befragungswesen zu sagen. Insofern hängt sich die kryptische Behörde an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und verteilt jährlich 7.000 Fragebögen in der Sprache Dari in den Asylbewerberheimen der Republik.
"Wie weit war es bis zum Brunnen und wie war der Arzt?"
Unterteilt sind die Fragen an die afghanischen Flüchtlinge in zwei Blöcke: einen sozioökonomischen und einen politischen. Die Hauptstelle will wissen, ob am Heimatort Trinkwasser vorhanden war - und wenn ja, in welcher Qualität. Und von woher es stammt, aus Bächen oder aus Brunnen. Ob es dort einen Arzt gab - und wenn ja, ob er moderne oder nur traditionelle Heilmethoden anbot. Wenn nein, wie weit der Weg bis zum nächsten niedergelassenen Arzt war. Dann richtet sich die Neugier der Hauptstelle für Befragungswesen auf die Frage, ob die Anwesenheit der ISAF-Truppen von der Bevölkerung am Heimatort als stabilisierender Faktor wahrgenommen werde oder ob man eher ihren Abzug wünsche. Ob die afghanische Polizei in der Verbrechensbekämpfung Fortschritte gemacht habe, interessiert ebenso, wie die Frage, ob nach Einbruch der Dunkelheit die öffentlichen Verkehrsmittel am Heimatort aus Sicherheitsgründen den Betrieb einstellen oder nicht. Spätestens da hätte man sich auch über die Frage, ob die Kabuler U-Bahn noch nach 20 Uhr fährt, nicht mehr gewundert.
"Werden die Taliban wieder die Macht ergreifen: ja oder nein?"
Vom Kleinen tasten sich die Frager langsam zum Großen und Grundsätzlichen vor. "Die Mehrheit der Menschen meines Heimatortes glaubt, dass die derzeitige gewählte Regierung (unter Präsident Karzai) die Lage stabil halten kann: ja oder nein?". "Nach dem Abzug der ISAF-Truppen werden die Taliban wieder die Macht ergreifen: ja oder nein?"
Im Kopf des ungebetenen Lesers steigen ganz andere Fragen auf. Was machen eigentlich die vielen BND-Mitarbeiter in Afghanistan? Sammeln sie dort Informationen? Was tut die Bundeswehr - und was hat sie in den vergangenen zwölf Jahren, bei Tausenden Patrouillenfahrten und Zehntausenden "Unterredungen" und "Tuchfühlungen" mit Dorfältesten, Würdenträgern und Provinzgouverneuren gesehen und gehört? Worüber haben sich die deutschen und die verbündeten Sicherheitskräfte aus den USA und Großbritannien während der vergangenen zwölf Jahre am Hindukusch ausgetauscht?
Reichen die Direkt-Informationen aus Afghanistan nicht aus?
Es gab ja einige Aufregung im Sommer, als der Verdacht aufkam, BND und NSA würden in Deutschland gemeinsam jährlich 500 Millionen digitale Kommunikationsdatensätze abgreifen, speichern und auswerten. Plötzlich schien der Beweis erbracht, dass und mit welchen Methoden deutsche und amerikanische Geheimdienste gemeinsam die Deutschen ausspähen. Die Bundesregierung hat der Aufregung den Wind aus den Segeln genommen: Die in Rede stehenden Datensätze würden zwar vom Superhorchposten im bayerischen Bad Aibling abgesaugt, sie stammten jedoch nicht aus Deutschland sondern aus den Krisengebieten der Welt, vor allem aus Afghanistan, wusste Kanzleramtschef Ronald Pofalla im August zu berichten. "Dann ist ja gut", dachte man.
Aber dieser Fragebogen für afghanische Asylbewerber ruft beim ungebetenen Leser nun neue Unruhe hervor: Welche Informationen haben die Geheimdienste den 500 Millionen Datensätzen aus Afghanistan denn entnommen? Reichen die nicht, um zu wissen, ob die afghanische Bevölkerung die Propaganda der Taliban gutheißt oder nicht? Oder ob die religiösen Funktionsträger am Hindukusch für die Taliban sind oder gegen sie? Ob Karzai sich halten kann oder nicht? Muss man zur Sicherheit die afghanischen Flüchtlinge, die sich nach Deutschland gerettet haben, danach fragen?
Eigentlich will Deutschland nur Eines wissen
Der Geheimdienst wird das nicht beantworten. Aber er wird sich denken: "Die Journalisten begreifen es einfach nicht. Es will nicht in ihren Kopf, dass wir alle Informationen, derer wir habhaft werden können, sammeln. Wir lassen keine Quelle unangezapft. Alles Wissen ist nützlich. Die Menge schreckt uns nicht ab. Wir haben doch Software, mit der wir das Wichtige herausfiltern."
Um das, was der Hauptstelle für Befragungswesen am wichtigsten ist, herauszufiltern, ist eine Software entbehrlich. Es geht ihr letztlich nicht um Afghanistan sondern um Deutschland, von dem sie ja Gefahren und Schaden abzuwenden hat. Der Fragenkatalog an die afghanischen Flüchtlinge kulminiert in folgendem Punkt: "Was werden Ihre Freunde, Bekannten, Arbeitskollegen und Verwandten tun, falls die Taliban wieder an die Macht kommen? Werden sie a) sich mit der neuen Regierung abfinden und ihr bisheriges Leben weiterleben? Werden sie b) in eines der Nachbarländer Afghanistans fliehen, um sich vor Unterdrückung und Gewalt in Sicherheit zu bringen oder werden sie c) nach Europa gehen und dort einen Asylantrag stellen?"
Man gewinnt den Eindruck, dass die Hauptstelle einen doppelten Zweck erfüllt. Deutschland will eigentlich nur das Eine wissen: kommen noch mehr von Euch Afghanen zu uns? Und wenn ja, wieviele? Und sollten bei der Arbeit der Hauptstelle auch Informationen herausspringen, die zum Kriegführen taugen, gibt Deutschland diese an die USA weiter.
Als Journalist betrachtet man es nicht als Mangel, dass man nur den leeren - und nicht die ausgefüllten Fragebögen besorgen konnte. Denn im Journalismus ist es, anders als in der Geheimdienstarbeit, manchmal so: Die Frage ist die Antwort.