Stand: 23.04.2021 17:00 Uhr

Neue Details im Fall Qosay K.: Was passierte in der Polizeiwache?

von Stefan Buchen, Armin Ghassim, Reiko Pinkert, Jonas Schreijäg und Sulaiman Tadmory

Rund einen Monat nach dem Tod des 19-Jährigen Qosay K. liegen neue Informationen darüber vor, was nach der Festnahme von Qosay K. in der Polizeiwache passiert sein soll. Im von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenen Obduktionsbericht, den Reporter des Recherche-Formats STRG_F (funk/NDR) einsehen konnten, schildert ein Polizist die bisher unbekannten Vorgänge auf der Polizeiwache.

Nach den Schilderungen des Polizisten sei es Qosay K. auch nach seiner Festnahme, die unter Anwendung körperlicher Gewalt und dem Einsatz von Pfefferspray stattgefunden hatte, schlecht gegangen. Er habe auf der Wache wiederholt um Wasser gebeten und dies auch trinken können. Dann habe er sich auf den Boden gelegt, noch bevor er in eine Zelle gebracht wurde. Dabei habe er mehrfach geäußert, dass er auf der rechten Seite liegen wolle.

Videoüberwachung, aber keine Aufzeichnung

Die Polizeibeamten hätten ihn dann in eine Zelle mit einer Matte gebracht. Dort sei er jedoch zwei Minuten später im Stehen kollabiert, als er sich seine Oberbekleidung über den Kopf gezogen habe, wie ein Beamter auf der Videoüberwachung beobachtet hätte. Von dieser Videoüberwachung gebe es jedoch keine Aufzeichnung. Qosay K. sei sofort bewusstlos und "reanimationspflichtig" gewesen.

Drogen ausgeschlossen

Auch im amtlichen Obduktionsgutachten, das die Reporter einsehen konnten, wird bislang kein eindeutiger Grund für den plötzlichen Tod von Qosay K. angegeben. Ein Rechtsmediziner, der dieses Gutachten gelesen hat, erklärte gegenüber STRG_F, es gebe aber darin Hinweise auf eine mögliche unentdeckte Vorerkrankung der Organe von Qosay K.. Möglicherweise könnte diese in Kombination mit der Belastung durch die Fixierung der Polizei und den Einsatz von Pfefferspray zum Tod des 19-Jährigen geführt haben. Das Ausmaß und die Rolle, die eine mögliche unentdeckte Vorerkrankung gespielt haben könnte, müsse aber in weiteren mikroskopischen Untersuchungen der Organe oder im nächsten Schritt durch eine genetische Untersuchung überprüft werden. Diese Untersuchungen stehen offenbar noch aus.

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Die Pressemitteilung der ermittelnden Staatsanwaltschaft Oldenburg hatte vergangene Woche keine Vorerkrankung erwähnt, stattdessen aber noch eine "Intoxikation mit Fremdsubstanzen" nahegelegt, also etwa den Konsum harter Drogen. Dies ist mittlerweile durch eine Blutuntersuchung widerlegt. Dort wurden lediglich geringe Mengen THC, also Rückstände von Marihuana, nachgewiesen.

Sanitäter behandelten Qosay K. nicht

Der 19-jährige Qosay K. hatte am Abend des 5. März zusammen mit einem Freund einen Joint geraucht, als zwei Zivilpolizisten sich ihnen im Delmenhorster Wollepark näherten. Qosay K. rannte weg und wurde nach etwa 250 Metern eingeholt und mit körperlicher Gewalt und Pfefferspray überwältigt und auf dem Bauch liegend fixiert. Nach der Festnahme wurde er zur Polizeiwache gebracht, wo er kollabierte. Einen Tag später starb Qosay K. im Krankenhaus. Der Fall hat große Aufmerksamkeit erregt, insbesondere, weil derzeit noch ungeklärt ist, welche Rolle die Polizei im Zusammenhang mit seinem Tod gespielt hat.

NDR, STRG_F und Süddeutsche Zeitung berichteten von einem Augenzeuge, der beschreibt, dass Qosay K. bei der Festnahme geschrieen, über Atemnot geklagt und vergeblich nach Wasser gefragt habe. Zudem sollen die eingetroffenen Sanitäter, die wegen des Einsatzes von Pfefferspray obligatorisch gerufen wurden, ihn nicht behandelt haben. Der Zeuge und Freund des Verstorbenen berichtet gegenüber dem NDR, dass die Sanitäter Qosay K. vorwarfen, er habe geschauspielert. Polizei und Sanitäter bestätigen, dass Qosay K. in keiner Weise behandelt wurde, begründen dies jedoch damit, dass er eine Behandlung abgelehnt habe. Dem widerspricht im NDR der Zeuge und Freund des Verstorbenen: Qosay K. habe schon am Ort der Festnahme mehrfach gesagt, ihm sei schwindelig und er bekomme schlecht Luft. Qosay K. wurde dann aber nicht in ein Krankenhaus, sondern auf die Polizeiwache gebracht. Die nun bekannt gewordenen Schilderungen der Polizei zeigen, dass es ihm direkt bei der Ankunft auf der Wache offenbar weiterhin schlecht ging. Das hatte die Polizei bisher nicht öffentlich kommuniziert.

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Klage wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung

Die Anwältin der Familie hat bereits vor zwei Wochen Strafanzeige gegen alle beteiligten Polizisten und Sanitäter wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung eingereicht. Grundlage dafür waren Zeugenschilderungen und ein zweiter, von der Familie in Auftrag gegebener Obduktionsbericht, der sauerstoffmangelbedingtes Herz-Kreislauf-Versagen als Todesursache angab. Die Ursache des Sauerstoffmangels sei demnach unklar. Die Ergebnisse der beiden Obduktionsberichte stimmen im Wesentlichen überein, jedoch könnten in der ersten Obduktion kurz nach dem Tod genauere Angaben über den Zustand der Organe gemacht werden, so der Rechtsmediziner gegenüber STRG_F. Im zweiten, späteren Gutachten waren die Organe als gesund und dem Alter entsprechend beschrieben worden. Hinweise auf eine Vorerkrankung hatte das private Gutachten der Familie von Qosay K. bislang nicht gefunden. Das könne aber daran liegen, dass diese bei der späteren Sektion am UKE Hamburg am Leichnam nicht mehr erkennbar waren.

Tod weiterhin nicht abschließend aufgeklärt

Weiterhin sind viele Fragen ungeklärt, etwa wie schnell in der Polizeiwache reanimiert wurde oder ob es nochmals zu körperlichen Auseinandersetzungen oder Fixierung kam. Auch sind die Vorgänge aus dem Krankenhaus weiterhin nicht bekannt. Die Polizei, die Sanitäter und auch das Krankenhaus wollten sich gegenüber STRG_F nicht äußern.

Dieses Thema im Programm:

STRG_F Doku | 23.04.2021 | 17:00 Uhr

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