Der Letzte von der Liste
Der Niederländer Siert B. soll im September 1944 gemeinsam mit einem anderen SS-Mann einen festgenommenen niederländischen Widerstandskämpfer hinterrücks erschossen haben. Neu aufgerollt wurde der Mord an dem Widerstandskämpfer unter anderem durch die Recherchen von Panorama im Sommer 2012. Der mutmaßliche NS-Kriegsverbrecher hatte im Juli 2012 gegenüber Panorama zugeben, dass er bei der Tat dabei war. Siert B. ist mittlerweile 92 Jahre alt und lebt im westfälischen Breckerfeld bei Hagen.
Eine wichtige Hürde im neuesten NS-Verfahren ist schon bewältigt: Siert B. wurde untersucht, er ist bei guter Gesundheit. "Einer Verhandlung steht nichts im Wege", sagte ein Gerichtssprecher. Wenn das Landgericht Hagen grünes Licht gibt und das Hauptverfahren zulässt, soll - voraussichtlich - am 21. August 2013 der Prozess beginnen.
30.000 Niederländer kollaborierten mit den Nazis
Siert B. gehört zu der Gruppe von 30.000 Niederländern, die sich während des Zweiten Weltkrieges der Waffen-SS, dem Sicherheitsdienst (SD) und der sog. Landwacht angeschlossen hatten. Beteiligt waren sie unter anderem an der brutalen Verfolgung des niederländischen Widerstandes und an den Deportationen der Juden. Viele der Erschießungen, brutalen Folterungen und Razzien gingen auf das Konto dieser holländischen Nazis.
Nach Kriegsende hatten sich zahlreiche niederländische SS-Männer der Strafverfolgung in ihrem Heimatland entzogen und sich in die Bundesrepublik abgesetzt. Eine Abschiebung mussten die NS-Täter nicht fürchten, weil sie einst als SS-Angehörige dank eines sogenannten Führererlasses automatisch zu deutschen Staatsangehörigen ernannt worden waren. Auch eine Strafverfolgung in Deutschland fand zunächst nicht statt: Noch 1980 standen mehr als 300 niederländische NS-Täter auf den Fahndungslisten der niederländischen Justiz.
Brutale Widerstandsbekämpfung
Siert B. stammt aus einer Familie niederländischer Nazis, die sich sehr früh in der Nationalsozialistischen Bewegung (NSB) organisierten. Aus "jugendlicher großdeutscher Begeisterung" meldete er sich im Alter von 20 Jahren im Frühjahr 1941 freiwillig zur Waffen-SS. An der Ostfront erkrankte Siert B. und wurde nach längerem Lazarettaufenthalt als Polizeiangestellter im Range eines SS-Unterscharführers zum SD-Grenzposten nach Delfzijl bei Groningen versetzt.
Anfang September 1944 verstärkte die mit deutschen und niederländischen SS-Angehörigen besetzte SD-Dienststelle Delfzijl die Bekämpfung des lokalen Widerstandes.
Das Opfer Aldert Klaas Dijkema
Vorgeworfen wird Siert B. im aktuellen Strafverfahren die Ermordung des niederländischen Widerstandskämpfers Aldert Klaas Dijkema. Der Bauer wurde 37 Jahre alt. Er war Aktivist der Reformierten Gemeinde aus Bierum in der Provinz Groningen, die sich um die Versorgung der Untergetauchten mit gefälschten oder den Deutschen geraubten Lebensmittelmarken kümmerte. Dijkema selbst hatte auf seinem Hof untergetauchte Juden, Widerstandskämpfer und junge Leute untergebracht, die sich der Zwangsarbeit in Deutschland entziehen wollten.
Am 21. September 1944 umstellten SD-Angehörige den elterlichen Bauernhof von Dijkema in Bierum und nahmen ihn fest. Er wurde von B. und einem deutschen SS-Mann in einem Pkw in das nahegelegene Dorf Appingedam gebracht und dort erschossen. B. berichtete später Angehörigen der SD-Dienststelle, man habe Dijkema aussteigen lassen und zu ihm gesagt: "Geh mal eben pissen!" Sie ließen ihn vor sich hergehen und erschossen ihn. Nach dem Mord benachrichtigten die Täter einen niederländischen Polizeibeamten und gaben zu Protokoll, Dijkema sei nach der Sperrzeit angetroffen worden und auf Anruf nicht stehengeblieben. Man habe ihn deshalb "auf der Flucht erschossen".
Die Verbrechen im Raum Delfzijl /Groningen wurden nach der Befreiung nicht vergessen. Die niederländische Justiz konnte den deutschen und niederländischen Angehörigen des SD-Grenzpostens in Delfzijl zahlreiche Mordtaten und andere Verbrechen nachweisen. Der Tatbeitrag des nach Deutschland geflüchteten Siert B. wurde von einem Militärgericht mit einer Verurteilung zum Tode in Abwesenheit geahndet; das Urteil wurde später in eine lebenslängliche Strafe umgewandelt. Zahlreiche Angehörige der SD-Jagdkommandos in Delzijl konnten verhaftet und abgeurteilt werden. Nur Siert B. blieb verschwunden. Er hatte sich inzwischen nach Deutschland abgesetzt und baute sich dort ein neues Leben auf.
"Angesehener Bürger", Mitglied im Schützenverein
Erst 1978 findet eine Gruppe von ehemaligen Groninger Widerstandskämpfern aus dem Umfeld der jüdischen Gemeinde das Versteck von B. im Ort Breckerfeld bei Hagen. Als ihre Erkenntnisse bei der örtlichen Staatsanwaltschaft aber auf keinerlei Interesse stoßen, bereiten sie auf eigene Faust eine Entführung B. nach Holland vor. Die Vorbereitungen sind sehr fortgeschritten, ein Sportflugzeug steht bereit, B. soll mithilfe eines Lockvogels zu einem Rundflug überredet und schließlich auf niederländisches Staatsgebiet gebracht werden. Aus unbekannten Gründen scheitert das Vorhaben, schließlich schalten die verhinderten Entführer den Nazijäger Simon Wiesenthal ein. Wiesenthal fordert in einem Brief an die zuständige Staatsanwaltschaft die sofortige Festnahme von Siert B. Dieser hatte sich mit falschen Papieren im westfälischen Breckerfeld niedergelassen und eine bürgerliche Existenz mit der Produktion von Jägerzäunen aufgebaut. Er galt als ein angesehener Bürger seines Wohnortes, war Mitglied des Schützenvereins und des örtlichen Kegelklubs. Jeden Sonntag nahm er als Presbyter seinen reservierten Platz in der Kirche ein. Als die Behörden endlich handelten und B. zunächst in Auslieferungshaft nahmen, protestierten Bürger von Breckerfeld und ein sozialdemokratischer Ratsherr heftig. Sogar Unterschriftensammlungen für die Freilassung des beliebten Nachbarn gab es. Nach zweimonatiger Auslieferungshaft wurde B. durch seine SS-Zugehörigkeit zum Deutschen erklärt und konnte nicht mehr ausgeliefert werden. Er wurde vorerst freigelassen.
Von der deutschen Justiz 32 Jahre "vergessen"
Die deutsche Justiz musste sich nun selbst - diesmal aber vor dem Hintergrund eines massiven internationalen Druckes - mit den Straftaten des Niederländers auseinandersetzen. Auch sein Mittäter bei der Ermordung der jüdischen Brüder, der SS-Mann August Neuhäuser, konnte ausfindig gemacht werden. 1979 kam es vor dem Landgericht Hagen endlich zum Prozess. Angeklagt war aber "nur" der Doppelmord an zwei jüdischen Brüdern, der Mord an A.K. Dijkema und B.s Beteiligung an Exekutionskommandos wurden 1980 nicht als Mord gewertet und blieben in Deutschland straflos. Auch sonst blieb das Strafmaß milde, weil, so die Richter in ihrer Urteilsbegründung, "so lange nach Kriegsende (…) nicht mehr das volle Strafbedürfnis bestehen würde": Das Gericht verurteilte B. wegen Beihilfe zu zwei Morden zu sieben Jahren Haft. Ihm wurde vom Gericht eine gute Sozialprognose attestiert. Nach fünf Jahren war er wieder auf freien Fuß.
Der Mord an A.K. Dijkema blieb aber ungesühnt und wurde von der deutschen Justiz einfach 32 Jahre "vergessen", obwohl B. wegen der Ermordung Dijkemas bis heute auf der Fahndungsliste der Niederländer steht.
Erst nach den Recherchen des niederländischen Journalisten Gideon Levy zu Beginn des Jahres 2012 ist die deutsche Justiz aufgewacht. Eine neue Rechtslage sei eingetreten, sagte die zuständige Staatsanwaltschaft in Dortmund im Sommer 2012 im Panorama-Interview: Der Mord an dem Widerstandskämpfer Dijkema könne jetzt als Mord gewertet werden.
Nicht nur die niederländische Öffentlichkeit darf daher gespannt sein, ob die Strafverfolgung 69 Jahre nach der Ermordung von A.K. Dijkema gelingt. Die 97jährige Schwester von Aldert Klass Dijkema und ihre Familie hat vorsorglich die Zulassung als Nebenklägerin beantragt und eine klare Meinung: "Er soll hinter Gitter!"