Stand: 23.03.2016 14:29 Uhr

Charlie Hebdo: Kam der Terror von außen?

von Stefan Buchen
Trauermarsch in Paris © dpa-Bildfunk Foto: Fredrik von Erichsen
Trauermarsch in Paris: Woher kam der Terror?

In der Ursachenforschung zu der Bluttat von Paris dreht sich alles um den Islam und die Internationale des Terrors. Die Hauptattentäter, die Brüder Kouachi, waren Franzosen algerischer Abstammung. Bei der Ausleuchtung der Hintergründe des Attentats sollte man weder die französische National- und Kolonialgeschichte noch das Verhältnis von Regierungsmacht und Presse in Frankreich außer Acht lassen.

Intuitiv spürten die Moderatoren des französischen Qualitätsradiosenders France Info, sobald sich Zahl und Identität der Mordopfer abzeichneten, dass sie das Ereignis in den Lauf der Zeit einordnen müssen. Und hier beginnt die Schwierigkeit. "Das blutigste Attentat der französischen Geschichte", sagte einer. "Das blutigste Attentat der vergangenen Jahrzehnte", formulierte eine Kollegin vorsichtiger. "Das mörderischste Attentat seit mehr als fünfzig Jahren" präzisierte ein Dritter.

Eine historische Hetzjagd mit mehr als 100 Toten

Die Begründung für diese recht genaue Angabe blieb allerdings aus. Das lässt sich allein mit der Hitze des Gefechtes zwischen Seine und Marne entschuldigen. Die Begründung wäre auch nicht so leicht gewesen. Denn was sich vor etwas mehr als 53 Jahren in Paris abspielte, am 17. Oktober 1961, war kein Attentat im eigentlichen Sinne.  Es war eher eine Hetzjagd, an deren Ende mehr als 100 leblose Körper in der Seine trieben. Der Täter war die Staatsmacht, unterstützt von französischen Bürgern und Aktivisten einer bestimmten politischen Couleur. In den Medien fand das Massaker nicht statt. Es wurde  totgeschwiegen. Die Opfer waren Algerier, die von ihren Mördern beschuldigt wurden, Anhänger des "Front de la Libération Nationale", also der Nationalen Befreiungsfront "FLN" zu sein. Es war die Bewegung, die das Ende der 130-jährigen Kolonialherrschaft Frankreichs über das riesige Gebiet in Nordafrika herbeiführen wollte.

Das blutige Erbe des Algerienkrieges

Flagge / Fahne von Algerien
Erst seit 1962 unabhängig: Algerien.

Die Geschichte lief damals dem französischen Konsens entgegen. Es schien unvorstellbar, dass Algerien, das in Form dreier Départements der unteilbaren Republik einverleibt war, sich von Frankreich lossagen könnte. Von den Konservativen bis zu den Kommunisten erstreckte sich in dieser "Schicksalsfrage" die Einheit der Nation. Hunderttausende französischer Sodaten versuchten, den Aufstand in Nordafrika zu brechen. Ein gewisser François Mitterrand segnete als Justizminister Dutzende Hinrichtungen und systematische Folter gegen Mitglieder des FLN ab.

Hinterfragt wurde die nationale Einigkeit über die "Algérie française" nur von ganz Wenigen. Zum Beispiel von Intellektuellen, die in der Zeitschrift "Les Temps Modernes" publizierten, allen voran vom Philosophen und Romancier Jean-Paul Sartre. Als Reaktion zensierte und beschlagnahmte die Staatsmacht einige Ausgaben des Blattes. Wer sich heute in der Selbstgewissheit übt, die Meinungs- und Pressefreiheit mache "unser Wertesystem" aus, muss sich bereits wegen jener Vorgänge eine gewisse  Oberflächlichkeit vorwerfen lassen.

Die Konzentration auf "den Islam" ist falsch

Alle Welt fragt als Reaktion auf die Mordtaten der Brüder Kouachi und ihrer Komplizen nach der Rolle des Islam. Alle rücken zusammen um den Konsens, dass der Islam keine Aufklärung gekannt habe und dass diese Religion deshalb regelmäßig brutale Mörder gebäre, blutrünstige Rächer aus einer präzivilisatorischen Evolutionsstufe. Der 07. Januar 2015 sei daher nichts anderes als der europäische 11. September. Daraus ergeben sich dann schnell Schlussfolgerungen, die Gesetze zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus zu verschärfen (Marine LePen will sogar die Todesstrafe wiedereinführen) und die Einwanderung muslimischer Migranten nach Europa zu stoppen.

Das ist die falsche Debatte. Die Schwierigkeit liegt darin, dass bestimmte Tatsachen zu dieser falschen Debatte verleiten. Die Mörder hatten ja Bezüge zu sunnitischen Extremisten im Fruchtbaren Halbmond und im Jemen. Sie haben ihr Rachemotiv genannt, wonach sie ihre Opfer aus einer "universellen Glaubensfrage" heraus niedermähten. Die Sache scheint klar: Die Mörder gehören zur großen Internationale des islamistischen Terrors, Punkt.

Wer sind die Mörder?

In diesen omnipräsenten Gewissheiten gehen andere Überlegungen unter. Es stellt sich nämlich die Frage, ob wir für die Analyse der Morde von Paris nur die Äußerungen heranziehen sollten, mit denen die Täter ihr Handeln begründeten: "Allahu akbar, wir haben den Propheten gerächt." Und sollten wir uns darauf beschränken, dies mit einigen Fakten zu untermauern, die sich auf die Tatvorbereitung beziehen - "Ich war bei al-Qa´ida im Jemen"?

Viel wichtiger als das, was die Mörder äußerten und wen sie zur Vorbereitung wo trafen, ist für die Ursachenanalyse, was und wer die Mörder sind. Said und Chérif Kouachi sind die in Frankreich geborenen Söhne algerischer Migranten. Damit sind sie Kinder der französischen Kolonialgeschichte. Diese Geschichte war blutig und zeitigte entsetzliche Folgen, die andauern.

Eine Begleiterscheinung des Algerienkrieges 1954-62  war die massive Übersiedlung von Algeriern nach Frankreich, nicht zuletzt von Kollaborateuren der französischen Armee und Polizei. Konkret waren diese Migranten Kinder eines über die Jahrzehnte ausgeklügelten Apartheidsystems,  in dem die Bezeichnung "Bürger zweiter Klasse" für die autochtonen Bewohner Algeriens eine unzulässige Beschönigung darstellen würde.

VIDEO: Panorama vom 25. Februar 1962 (25 Min)

Nie in Frankreich angekommen

Im Vergleich war es für diese Migranten schwieriger, Anschluss an die französische Gesellschaft zu finden, als es für die türkischen "Gastarbeiter" war, in Deutschland Fuß zu fassen. In diesem Fall war die Vorgeschichte in Deutschland - solche Ausnahmen kommen vor - weniger belastend als in Frankreich. Die "Integration" der nordafrikanischen Einwanderer - also die Aufarbeitung des kolonialen Erbes - ist in Frankreich besonders schlecht gelungen.

Was die Brüder Kouachi über die französische Kolonialgeschichte in Algerien dachten, ist nicht bekannt. Warum genau ihre Eltern nach Frankreich kamen, wissen wir auch nicht. Es ist auch nicht so bedeutsam. Entscheidend ist, dass sie kamen. Es wäre albern zu behaupten, die Mörder hätten sich für die Kolonialgeschichte rächen wollen.  Kluge Politiker würden allerdings erkennen, dass es nicht ausreicht, die Bluttat von Paris allein mit der "islamistischen Internationalen des Terrors" und ihrem ideologischen Wirken zu erklären.

Katastrophale Folgen bis heute

Eine Frau bei einer Kundgebung schwenkt eine französische Flagge. © TeleNewsNetwork
Die Republik stand nicht immer an der Seite der Pressefreiheit.

Die in den Fünfziger bis Siebziger Jahren chaotisch entstandene Zusammensetzung der französischen Gesellschaft lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Es kommt nun darauf an, die katastrophalen Spätfolgen dieses Erbes, die Ausgrenzung und Benachteiligung der nordafrikanischen Migranten und ihrer Nachkommen, beharrlich und in kleinen Schritten zu beseitigen.

Das wird nur möglich sein, wenn die Entscheidungsträger und Meinungsmacher die Lage in Frankreichs Ghettos mehr als soziales denn als identitäres Problem begreifen. In anderen Worten: anstatt in einen Kampf der Kulturen einzutreten, wäre es klüger, sich den epochalen Entwurf des Ökonomen Thomas Piketty zu Herzen zu nehmen. Gerade Frankreich wird aus seiner Misere nicht herauskommen, wenn "das Kapital im XXI. Jahrhundert" zu ungleich verteilt bleibt. Die regierenden Sozialisten haben zu erkennen gegeben, dass sie dieses Eisen nicht anpacken werden.

In den Fünfziger Jahren entdeckten die Franzosen das Absurde als philosophische Größe. Es hielt triumphalen Einzug in die Literatur. Albert Camus ließ in einem seiner berühmtesten Romane einen Franzosen, der sich seiner Umgebung "entfremdet" hatte, aus Langeweile "einen Araber" niederstrecken. Absurd erscheint auch die Auswahl der Opfer in Paris im Januar 2015. Drei der ermordeten Zeichner von Charlie Hebdo waren über siebzig Jahre alt. Cabu hatte als 20-Jähriger im Algerienkrieg in der französischen Armee gedient. Er fand diesen Kolonialkrieg absurd und widerwärtig. Die Erfahrung prägte sein politisches Denken. Alles Militärische überzog der Karikaturist fortan mit Spott. Er schuf die lächerliche Figur des "Adjutanten Kronenbourg", ein bleibendes Vermächtnis.

Charlie Hebdo ist ein Produkt staatlicher Zensur

Charles de Gaulle (l.) und Konrad Adenauer am 4. September 1962 in Köln. © dpa picture alliance Foto: Heinz-Juergen Goettert
Charles de Gaulle (li.) 1962. Die Vorgängerzeitung von Charlie Hebdo war verboten worden, weil sie den Tod des Generals satirisch kommentierte.

Das Vorgängerblatt von Charlie Hebdo musste 1970 den Betrieb einstellen, nicht wegen einer islamistischen Attacke, sondern weil die französische Regierung wegen einer Beleidigung des Präsidenten, General de Gaulle, einschritt. Die Zeitung wurde verboten. Charlie Hebdo wurde aus der Taufe gehoben, weil der Vorgänger der staatlichen Zensur zum Opfer gefallen war.

Das Kalkül der Terroristen geht auf

Auch deshalb ist es nicht ganz frei von Absurdität und sogar Komik, wenn Präsident und Premierminister nun ihre Solidarität mit "Charlie" und der "freien Presse" bekunden. Hollande und Valls müssen nicht befürchten, dass Theorie und Praxis der Pressefreiheit in Frankreich zu hartnäckig hinterfragt werden dieser Tage. Die Verflechtungen zwischen Medien, Rüstungsindustrie und Politik stehen bis auf weiteres nicht auf der Tagesordnung.

Alles spricht dafür, dass die Reaktion der Entscheidungsträger auf den Januar 2015 in ihrem politischen Gehalt so ähnlich sein wird wie nach dem 11. September 2001. Der "Krieg gegen den Terror" geht weiter (Präsident Obama hatte dieses Konzept zu Beginn seiner Amtszeit einmal kurzzeitig in Frage gestellt). Die islamistische Internationale wird es freuen. Ihre Strategie, an politischer Bedeutung zu gewinnen, geht auf.

 

Dieses Thema im Programm:

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