Böhmermann und die Frage nach dem "Wir"
Ein Gesetz wurde geändert, die Kanzlerin hatte sich geäußert und die Medien berichteten durchgehend. Eine sachliche Analyse im Fall Böhmermann vs. Erdogan war kaum möglich. Jetzt aber ist die Debatte entschleunigt. Denn vor Gericht wird nur alle paar Monate verhandelt. Vorgestern der erste Verhandlungstag und im Februar 2017 dann der nächste. Eine gute Gelegenheit für eine grundsätzliche Betrachtung jenseits der Emotionen.
Vor Gericht heißt es nun Böhmermann gegen Erdogan oder besser: Staranwalt gegen Staranwalt. Denn die beiden Hauptprotagonisten waren, wie erwartet, nicht persönlich vor Gericht erschienen, sondern hatten sich von ihren Anwälten vertreten lassen. Viel passiert ist denn auch nicht: Die bereits bekannten Argumente wurden ausgetauscht und nun beginnt das Warten auf den nächsten Verhandlungstag. Der aber ist erst im nächsten Jahr und während Anfangs noch die eilig eingereichte einstweilige Verfügung gegen das Gedicht, eine Äußerung der Kanzlerin und sogar die Gesetzesänderung zahllose Schlagzeilen hervorbrachten, ist jetzt maximale Entschleunigung angesagt. Denn die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Eine gute Gelegenheit, bewusst antizyklisch zum medialen Rhythmus, eine grundsätzliche Betrachtung vorzunehmen.
Wie rassistisch ist das Gedicht?
Denn tatsächlich ist ein Aspekt des Böhmermann-Gedichts einerseits omnipräsent gewesen, andererseits aber nicht erschöpfend diskutiert worden. Es geht um die Frage: Wie rassistisch ist das Gedicht? Die Begründung der Richter für die einstweilige Verfügung hat bereits auf die Problematik hingewiesen: "Die fraglichen Zeilen greifen gerade gegenüber Türken oftmals bestehende Vorurteile auf, die gewöhnlich als rassistisch betrachtet werden."
Tatsächlich greift das Gedicht auf rassistisches Wissen zurück und impliziert: alles was Erdogan ist, sind wir nicht. Der Konstruktion und Bekräftigung eines "Werte-Wir" wird Erdogan als das vermeintlich "Andere" gegenüber gestellt.
Emotionale Debatte
So gesehen ist die Böhmermann-Debatte wichtig für die Identitätsbildung. Es geht nicht um "unser" Verhältnis zur Türkei oder um "unsere" Haltung zum sogenannten Flüchtlings-Deal und schon gar nicht um die Verteidigung der Satirefreiheit. Die war nie ernsthaft gefährdet. Es geht um "uns". Der britische Soziologe Stuart Hall schrieb über weiße Engländer: "Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind." Deshalb wird die Debatte wohl auch so emotional geführt. Alles was "der Orient" ist, ist "der Okzident" nicht und umgekehrt. Dem aufgeklärten Westen, in der Satire um der Kunst Willen alles darf, wird in dem Gedicht ein selbstsüchtiger, eitler Despot gegenübergestellt:
"der Mann der Mädchen schlägt" → Patriarchat versus Gleichberechtigung.
"Ziegen ficken" → Barbarei versus Zivilisation
"Minderheiten unterdrücken" → Tyrannei versus Demokratie
"Christen hauen" → Islam versus Christentum
In dieser Logik sind diejenigen, die sich Erdogan und damit dem Patriarchat, der Barbarei, der Tyrannei und auch dem Islam gegenüberstellen, automatisch in Abgrenzung dazu auf der Seite der Gleichberechtigung, Zivilisation, Demokratie und dem Christentum.
Wir haben Satire und Sie nicht
Dieses Deutungsmuster greift auf eine Tradition zurück, die weit in die Vergangenheit reicht, zurück bis in die Zeiten der Kolonisation. Die Gegenüberstellung folgt nämlich jenem Schema, das der Wissenschaftler Edward Said "Orientalismus" genannt hat: Der Orient wird konstruiert und dem konstruierten Okzident spiegelverkehrt untergeordnet.
Demnach war Kolonisation nie einfach nur ein ökonomisches und politisches Projekt, sondern auch die Konstruktion des Wissens über "die Anderen". Laut Said konstruierte das Wissen der "Orientexperten" das, was "wir" über "die Anderen" wissen und wie "wir" uns von "ihnen" unterscheiden.
Kolonisation, Imperialismus, Neoimperialismus
Stuart Hall geht noch einen Schritt weiter: "Für mich ist die Kolonisation aber nur ein Teil eines historischen Prozesses, der mit dem Auszug Europas im 15. Jahrhundert und seinen 'Entdeckungen' begann, dem die Eroberungen, die Kolonisation, der Imperialismus, der Neoimperialismus und jetzt die Neue Internationale Ordnung folgten".
Dementsprechend sind heutige Zuschreibungen - Konstruktionen des "Anderen" - das Produkt eines Prozesses, der für Stuart Hall bereits 1492 begann. "Sie begründen einen bestehenden Herrschaftszustand damit, dass die 'Anderen' unzivilisiert sind und wir zivilisiert, dass wir Schiffe haben und sie nicht, dass wir Gewehre haben und sie nicht, dass wir die Wissenschaften haben und sie nicht, dass wir die Druckerpresse besitzen und sie nicht."
Es geht um den Führungsanspruch
Ziel dieser Konstruktion damals war es, sowohl die kolonisierenden als auch die kolonisierten Menschen von der Überlegenheit der Weißen zu überzeugen und damit die Kolonisation zu legitimieren. Denn nur aus der vermeintlichen Überlegenheit lässt sich der Führungsanspruch rechtfertigen, und dafür sind Grenzen notwendig, die definieren, wer zu den Überlegenen und wer zu den Unterlegenen gehört.
Erdogan und "der Orient" sind - darin greift Saids Konzept wohl zu kurz - als Akteure zu begreifen und nicht als bloßes Objekt "deutscher" Identitätskonstruktion. Dennoch beruhen die in dem Gedicht formulierten Zuschreibungen auf dem, was in der Vergangenheit von den "Orientexperten" über den Orient aufgeschrieben wurde.
Verkennung historischer Stereotype
Die Kolonialgeschichte Deutschlands und Europas mit ihrer rassistischen Gesellschaftsordnung werden so zur Hintergrundfolie für das Gedicht. Diesen rassistischen Hintergrund hat die Böhmermann-Debatte weitesgehend ignoriert.
Die Verkennung des tatsächlichen, historischen Kontextes der Stereotype verstellt so den Raum für eine Auseinandersetzung mit ihnen. Auf der Strecke bleibt zum Beispiel die Frage, warum Erdogan ausgerechnet Ziegen und nicht - sagen wir mal: Hasen - fickt. Dem würde sich die Frage anschließen, ob es tatsächlich für die Böhmermann unterstellte Absicht, satirisch auf Missstände hinweisen zu wollen, notwendig war, rassistische Stereotype aufzugreifen?