Sendedatum: 29.10.2015 21:45 Uhr

Migrationsforscher: "Angstgesteuerte Konzeptionslosigkeit"

Die Regierung ist sich einig: Der Zustrom der Flüchtlinge muss sofort begrenzt werden. Vorschläge kursieren viele: Fluchtursachen jetzt in Herkunftsländern bekämpfen, Außengrenzen der EU jetzt sichern oder Transitzonen in Deutschland jetzt bauen. Wir fragen den Migrationsforscher Jochen Oltmer: Stoppt das die Flüchtlinge?

Panorama: Herr Oltmer, die Politik fordert Fluchtursachen zu bekämpfen. Kann das kurzfristig Flüchtlinge stoppen?

Jochen Oltmer: Fluchtursachenbekämpfung wird gerne in den Mund genommen, allerdings gibt es keinerlei Konzepte, wie genau so eine Fluchtursachenbekämpfung aussehen soll. Schauen wir uns die Konflikte einmal an: Wir reden über Syrien, Irak oder Afghanistan. Diese Konflikte laufen über viele Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Es gibt keine, wirklich keine Perspektive zu einem Ende der Konflikte zu kommen und nur ein Ende würde einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Flüchtlinge auf einen Rückweg begeben würden.

Doch wie sieht es aus mit der Forderung die Europäischen Außengrenzen zu sichern?

Ein schnelles Zumachen der europäischen Außengrenzen scheint mir nicht möglich zu sein. Die Grenzstaaten müssten ganz konkret die Grenzen zumachen. Grenzen zumachen heißt aber mehr als einen Zaun bauen. Denn Menschen können dann immer noch an den Zaun kommen, ein Asylbegehren vorbringen und müssen dann rein gelassen werden. Dafür haben alle europäischen Staaten die entsprechenden Konventionen unterschrieben, etwa die Genfer Flüchtlingskonventionen oder die Europäische Menschenrechtskonvention. Wenn man also seine eigenen Außengrenzen nicht wirklich schließen kann, nicht selbst militarisieren möchte, dann müsste man das Vorfeld sichern, d.h. man müsste andere Staaten im Vorfeld der Europäischen Union dafür gewinnen, diesen Job zu übernehmen.

Zum Beispiel die Türkei? Merkel hat sich dafür eingesetzt, dass die Türkei unterstützt wird, um mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Könnte das nicht klappen?

Man kann zwar auf die Türkei setzen, man kann die Türkei auch mit Geld unterstützen, aber das dürfte relativ wenig helfen. Drei Probleme gibt es in der Türkei:
1.) Die Türkei gewährt keinen Aufenthaltsstatus für Flüchtlinge, sie sind nur geduldet.
2.) Flüchtlinge sind nicht mit einer Arbeitsgenehmigung ausgestattet, sie dürfen nicht arbeiten, höchstens illegal.
3.) Die Wohnsituation wird immer schwieriger, weil Flüchtlinge bislang eher privat untergekommen sind und Lager kaum existieren, sieht man von den paar Einrichtungen ab.

Wenn man jetzt auf die Türkei setzen würden, als ein Staat, der Vorfeldsicherung für die europäische Union betreibt, dann müsste die Türkei tatsächlich ein Asylrecht schaffen, eine Asylbürokratie, die die Menschen sortiert nach denen, die einen Aufenthalt haben dürfen und jenen, die keinen Aufenthalt haben dürfen. Und sie müsste eine Infrastruktur schaffen, um Menschen in  großer Zahl aufnehmen, unterbringen und in Arbeit bringen zu können. Das ist in anderen Staaten über Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten hinweg passiert, und jetzt soll das die Türkei mit dieser großen Zahl an Flüchtlingen innerhalb von Tagen machen.

Zumindest aber könnte man die Flüchtlinge gerechter verteilen, oder?

Ich denke, diese Quoten-, diese Kontingentregelung in Europa ist attraktiv. Es ist ein wichtiges Fernziel europäischer Politik. Nur das Problem scheint mir dabei zu sein, dass dieses Fernziel von der Politik verkauft wird als ein bald, sehr bald zu erreichendes Nahziel. Dabei ist so ein System nicht leicht zu schaffen: Selbst wenn man davon ausgeht, dass man zunächst einmal ein paar besonders interessierte Staaten auf seine Seite ziehen könnte, würde es trotzdem sehr lange dauern. Nur zum Vergleich: Das Dublinsystem hat Jahrzehnte gebraucht, um aufgebaut zu werden und auch so ein Asylsystem würde viele Jahre intensiver und auch schmerzhafter Abstimmung zwischen europäischen Staaten bedürfen und dann wäre bei weitem nicht die gesamte Europäische Union in so einem System vereint.

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Was wir in den vergangenen Wochen beobachtet haben ist, dass die Zahl der Menschen aus dem Balkan massiv nach unten gegangen ist. Wir haben zunehmen weniger Zuwanderung vom Balkan, d.h. ganz konkret diejenigen, die man im Auge hat, sie in Transitzonen zu fassen, kommen gar nicht mehr. Es ist also ein Maßnahmenpaket, dass auf die Situation von vor zwei oder drei Monaten zielt, für die heutige Situation relativ bedeutungslos ist.

Wenn keine der Maßnahmen wirklich kurzfristig Wirkung zeigen, warum erklärt die Politik überhaupt erst diese Ziele?

Migrationsforscher Prof. Dr. Oltmer © Screenshot
"Wir haben es mit einer extrem angstgesteuerten Konzeptionslosigkeit zu tun", so Prof. Jochen Oltmer.

Wir haben es mit einer extrem angstgesteuerten Konzeptionslosigkeit zu tun, weil seit ein paar Wochen die zentrale Perspektive ist, Angst geht um in Deutschland, weil möglicherweise weitere vier Millionenen Syrer sich in Richtung Mitteleuropa aufmachen könnten. Die Maßnahmen sind wirre Ad-Hoc-Maßnahmen. Und durch das permanente produzieren von Ad-Hoc-Maßnahmen wird Handlungsbereitschaft, Handlungsmacht signalisiert, ohne dass diese Maßnahmen eine Wirkung haben. Es gibt keine Veränderungen, wenn man versucht mit relativ schlichten Maßnahmen ein relativ komplexes Thema wie Migration oder Flucht in den Blick zu nehmen.

Bleibt doch eines: Die Deutsche Grenze wieder dicht machen!

Um die deutsche Grenze dicht zu kriegen, muss man etwas machen, das push-back heißt: Man muss Menschen an der Grenze abweisen. Das bedeutet, dass man nicht nur Grenzen befestigt, man muss sie auch militärisch sichern und dafür sorgen, dass Menschen diese Grenzen nicht erreichen. Grenze dicht machen, das hieße Zäune zu errichten, über viele hunderte Kilometer hinweg. Grenzen dicht machen hieße aber auch, Grenzen zu bewachen. Wir bräuchten tausende, vielleicht zehntausende Bundespolizisten, die ganz konkret diese Grenze bewachen und dafür sorgen, dass kein Mensch diese Grenze überschreiten kann. Damit wäre aber relativ wenig gewonnen. Käme ein Flüchtling und würde sagen: ich möchte Asyl in der Bundesrepublik Deutschland, müsste das Tor geöffnet werden. Denn jeder Flüchtling, der in der Bundesrepublik um Asyl bittet, muss in ein Asylverfahren gebracht werden. Der Bau von Grenzen und das Einstellen von zehntausenden Bundespolizisten würde in diesem Zusammenhang also relativ wenig bedeuten, die Grenze und die Bewachung der Grenze durch die Bundespolizei wäre also völlig nutzlos.

Aber hätte der Zaun nicht auch eine Signalwirkung?

Baut die Bundesrepublik Deutschland einen Zaun, armiert diesen Zaun, würde das bedeuten, dass Österreich auch einen Zaun bauen muss, um zu verhindern, dass Menschen in großer Zahl bleiben. Baut Österreich einen Zaun, muss auch Italien einen Zaun bauen. Letztlich bleibt aber der Effekt relativ gering, denn es gibt immer noch das Asylrecht in der Europäischen Union und das heißt: Die Flüchtlinge müssen zugelassen werden, d.h. an der Grenze, in den Grenzstaaten der Europäischen Union müssen weiter ganz konkret Asylverfahren durchgeführt werden. Man hätte, wenn man wollte, durch diese Kettenreaktion, die sich dadurch ergibt, dass verschiedene Staaten Grenzzäune bauen, in gewisser Weise das Dublin System wieder hergestellt, das System, das bisher gewährleistete, dass immer nur die Grenzstaaten der europäischen Union für die Asylverfahren zuständig waren. Aber um welchen Preis hätte man das getan? Man hätte Europa mit einer riesigen Menge, mit riesigen Zäunen versehen, man hätte riesige Grenzbefestigungen auf den Weg gebracht, man hätte unheimlich viel Grenzpolizei eingestellt und armiert und auf diesem Wege am Ende keine Lösung erzeugt, weil weiterhin Zuwanderung von Flüchtlingen möglich .

Kurzfristig scheint keine Maßnahme zu greifen. Was ist mit Abschreckung?

Es werden die Meldungen kommen, von Verwandten, die sich auf der Balkanroute befinden, die in Richtung Türkei gerichtet sind: Kommt jetzt nicht! Es ist lausekalt, die Bedingungen sind katastrophal, wartet! Abschreckung würde bedeuten, die Mitteilung das die Lebensbedingungen katastrophal sind, völlig überfüllte Erstaufnahmeeinrichtungen, Flüchtlingslager mit der Vorstellung, diese über Monate, Jahre nicht verlassen zu können, also Zukunftslosigkeit. Sobald Flüchtlinge in der Türkei den Eindruck haben, in Deutschland hätten sie keine Perspektive, keine Zukunft, keine Chance, dann würden sie den riskanten, teuren Weg nach Deutschland nicht auf sich nehmen. In den vergangenen Monaten war offensichtlich die Konstellation in Deutschland noch zu positiv, wenn man so will, und die Menschen haben sich auf den Weg gemacht. Obwohl wir sehr genau wissen, dass die Lage in den Erstaufnahmeeinrichtungen schwierig genug war - das sind im Vergleich zur Situation in Syrien, im Libanon, in der Türkei immer noch glänzende Verhältnisse.

Das Interview führte Jasmin Klofta.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 29.10.2015 | 21:45 Uhr

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