Kolonialkunst: Der Umgang mit dem Erbe von Günter Tessmann
Der Forscher Günter Tessmann brachte im letzten Jahrhundert 150 Kunstobjekte aus Afrika nach Lübeck. Handelt es sich dabei um Raubkunst?
Drossilia Igouwe beugt sich über eine ein Meter große Ahnenfigur. Sie ähnelt einem kleinen Jungen mit einem runden Kopf und kurzen Haaren aus Federn. Die Augen bilden kreisförmige Eisenplatten. Vor schwierigen Entscheidungen fragten die Pangwe - die Bevölkerung des heutigen Kamerun, Gabun und Äquatorialguinea - früher so eine Figur um Rat, erzählt die Forscherin aus Gabun. Die Figur in der Völkerkundesammlung in Lübeck ist weltweit die einzige ihrer Art. Nicht nur ihr Wert ist unschätzbar sondern auch ihre Größe ist außergewöhnlich. "Die Figuren sind immer ungefähr 20 oder 30 Zentimeter groß. Und das ist schon etwas merkwürdig", sagt Igouwe. Sie möchte mit ihren Kolleginnen und Kollegen aus Lübeck herausfinden, wie der Forschungsreisende Günter Tessmann diese Figur erworben hat. Das Projekt wird vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste gefördert.
Forscherin aus Gabun als Mittlerin zwischen den Kulturen
Die Objekte der Pangwe anzufassen und zu wissen, dass Afrikaner sie hergestellt haben, sei für sie als Gabunerin ein Abenteuer und etwas ganz Besonderes. Igouwe sieht sich als Mittlerin zwischen den Kulturen. Sie wird ihr Wissen mit den Pangwe teilen. 1907 schickte der Direktor des Völkerkundemuseums Lübeck Günter Tessmann auf eine Expedition in das heutige Kamerun, Gabun und Äquatorialguinea, das damals unter deutscher Kolonialherrschaft stand. Er soll die Pangwe und ihren Lebensraum erforschen. Er lässt Hunderte Säugetiere, Reptilien und 10.000 Insekten präparieren, die heute in der Humboldt Universität von Berlin zu finden sind. Aber am meisten interessierten ihn die Skulpturen, Masken und Ritualgegenstände der Pangwe. 1.200 ethnologische Objekte sammelte er. 150 Objekte befinden sich heute in der Völkerkundesammlung Lübeck, der Großteil fiel 1942 einem Bombenangriff zum Opfer.
Kulturelles Erbe: Afrikaner sollen mitreden
Drossilia Igouwe hörte vor sieben Jahren an der Universität in Libreville (Gabun) von Günter Tessmann, als eine Professorin ihr riet, sich mit Ethnologie in Deutschland zu beschäftigen. Das Buch "Die Pangwe" von Tessmann sei unter Akademikern in ihrem Heimatland sehr bekannt. An der Universität Augsburg schrieb Igouwe dann über den Lübecker Forschungsreisenden ihre Masterarbeit. Jetzt arbeitet sie an ihrer Promotion.
Igouwe möchte zwischen den Kulturen vermitteln: "Meine Aufgabe ist die afrikanische Stimme. Ich will als Ethnologin aus Afrika dem urbanen Zentralafrika und den Dörfern ein Wort geben." Die Afrikaner sollen mitreden, wenn es um das Erbe von Tessmann geht, denn die Objekte werfen Fragen auf.
Günter Tessmann täuschte die Pangwe
Um an die Kunstgegenstände zu kommen, verwendete Günter Tessmann eine Maskerade: "Er ließ die Pangwe in dem Glauben, es würde sich bei ihm um einen Gouverneur handeln, also um einen amtlichen Regierungsvertreter der Kolonialregierung", sagt der Historiker Michael Schütte, der ebenfalls in der Völkerkundesammlung Lübeck forscht. Das Objekt seiner Begierde erwirbt er, indem er den Dorfältesten eine Art Freibrief schreibt. Das belegen Tessmanns Tagebuchaufzeichnungen: "Das wertvollste Stück von all meinen Erwerbungen bekam ich hier auf diese billige, wenn auch nicht ganz einwandfreie Art: eine prachtvoll geschnitzte Ahnenfigur. Eine prachtvoll geschnitzte Ahnenfigur von über ein Meter Länge". Die Aufzeichnungen lassen den Forschenden keinen Zweifel. "Man kann tatsächlich sagen, dass diese Objekte im Rahmen einer Täuschung erlangt wurden", sagt Schütte. Der Häuptling zieht, im Glauben, der Freibrief würde ihn dazu ermächtigen, sein Territorium zu erweitern, in den Krieg, gegen seine eigenen Landsleute.
Sammlungsleiter der Völkerkundesammlung Lübeck, Lars Frühsorge, sagt, dass nicht nur Tessmann sondern auch die Einheimischen ihre eigenen Ziele verfolgt hätten: "Wir machen einen großen Fehler, heute in Deutschland die Kolonialzeit nur als ein binäres System von Tätern und Opfern zu sehen." Möglicherweise wurden die Objekte entweiht, dafür gebe es Hinweise, sagt Frühsorge. Die außergewöhnlich große Figur könnte speziell für Tessmann angefertigt worden sein. "Man kann fragen: Wer hat hier wen benutzt. Aber das ist natürlich eine provokante These".
"Wir müssen dieses Erbe auch mit der Welt teilen"
Lars Frühsorge scheut sich nicht, es so direkt ausdrücken. Ihm ist wichtig, dass sich alle drei Forscherinnen und Forscher auf Augenhöhe austauschen. Die Völkerkundesammlung sehe sich nicht als Besitzer der Objekte. "Das bedeutet, wir müssen dieses Erbe auch mit der Welt teilen. Das kann durch Rückgabe passieren. Das kann durch Austausch passieren, wie jetzt mit Frau Igouwe. Aber wir müssen diese Rolle, dass wir das Wissen teilen, ernst nehmen", sagt Frühsorge.
Drossilia Igouwe wird, sobald es wieder möglich ist, ins Pangwe-Gebiet reisen, um die Informationen, die es in Lübeck über Tessmann gibt, zu ergänzen. "Das sagt die Kulturgemeinschaft, das hat der Sammler Tessmann geschrieben, diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Meinungen, das ist meine Aufgabe."
Ob die große Ahnenfigur aus Gabun oder Äquatorialguinea stammt, ist noch unklar. Igouwe möchte, dass das von Tessmann unrechtmäßig erworbene Kulturgut dem Herkunftsland wieder zurückgegeben wird: "Die Rückgabe ist sehr wichtig für unsere Generation. Ich habe diese Objekte in Europa, beziehungsweise in Lübeck, das erste Mal gesehen. In meinem Heimatland habe ich das nicht."