Eiskalte Spur - Die Göhrde-Morde und die verschwundene Frau

Mittwoch, 03. April 2024, 22:45 bis 00:15 Uhr

Die Geschichte klingt, als sei sie der Fantasie eines Krimi-Autors entsprungen. Doch sie ist wahr. Es ist die Geschichte von einem Polizisten, der nie aufgab und nach 28 Jahren ein Rätsel löst, an dem vor ihm schon viele gescheitert sind. Mit bisher unveröffentlichtem Material zeigt diese exklusive NDR Dokumentation eindrucksvoll, wie mühevolle Ermittlungsarbeit zu einem der brutalsten Serienmörder Deutschlands führte. Zu dem Mann, der auch hinter den rätselhaften Göhrde-Morden steht, die nicht nur Norddeutschland erschütterten.

Wolfgang Sielaff. © NDR
Drei Jahre lang hat der NDR Wolfgang Sielaff und seine Mitstreiter, aber auch Ermittler und Angehörige der Opfer begleitet - exklusiv.

Wolfgang Sielaff war einmal einer der mächtigsten Polizisten Hamburgs. Als LKA-Chef hat er Kriminalgeschichte geschrieben und bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Im Falle seiner Schwester war er jahrzehntelang allerdings der "ohnmächtigste" Polizist. 1989 verschwindet seine Schwester, die wohlhabende Unternehmergattin Birgit Meier, in Lüneburg spurlos. Die Stadt liegt im benachbarten Bundesland Niedersachsen. Wolfgang Sielaff hat hier nichts zu melden: Polizeiarbeit ist Ländersache. Er versucht zwar aus der Ferne, die niedersächsischen Kollegen zu effizienter Ermittlungsarbeit zu drängen. Aber er muss immer wieder sehen, dass erhebliche Pannen geschehen. Nur wenige Polizisten, die mit dem Fall betraut sind, ermitteln beherzt. Birgit Meier bleibt verschwunden.

Unter falschem Mord-Verdacht

Harald Meier, Ehemann von Birgit Meier. Er stand jahrelang unter Verdacht. © NDR
Harald Meier, Ehemann von Birgit Meier. Er stand jahrelang unter Verdacht.

Von der Polizei verdächtigt wird ihr Mann, Harald Meier, von dem sie zum Zeitpunkt des Verschwindens getrennt lebte. Er hat sie am Vorabend ihres Verschwindens als Letzter lebend gesehen - und hat kein Alibi für die Nacht. Bald schon ist die Polizei der Meinung, Harald Meier könnte seine Frau umgebracht und beseitigt haben, um das Geld bei der Scheidung zu sparen.

Die Ermittlungen um Birgit Meiers Verschwinden geraten immer wieder ins Stocken. Das hat einen Grund: Kurz zuvor sind zwei spektakuläre Doppelmorde in der Region geschehen, die die Polizei beschäftigen - und die Bevölkerung sehr beunruhigen: Im Staatsforst Göhrde vor den Toren Lüneburgs werden im Sommer ‘89 zwei Pärchen grausam ermordet. Der Täter muss extrem kaltblütig sein. Denn an dem Tag, an dem die Polizei die ersten Leichen findet, tötet er das zweite Pärchen nur 800 Meter entfernt - unbemerkt von den Beamten, die dort den ersten Tatort sichern. Die Polizei steckt jeden verfügbaren Kriminalisten in die Sonderkommission "Göhrde". Dadurch findet der Vermisstenfall "Birgit Meier" wenig Beachtung. Ein dramatischer Fehler, wie sich fast drei Jahrzehnte später zeigen wird. Denn der Mörder von Birgit Meier ist auch der mutmaßliche Göhrde-Mörder.

Noch mehr Pannen bei den Ermittlungen

Wolfgang Sielaff versucht mehrfach, die ermittelnden Beamten in Lüneburg auf offene Fragen und Widersprüche aufmerksam zu machen. Doch bei den Ermittlern gilt Ehemann Harald Meier als Tatverdächtiger. Andere Spuren werden nur halbherzig verfolgt. Dabei drängt sich ein Mann geradezu auf: Kurt-Werner Wichmann. Er ist wegen Vergewaltigung, versuchter Tötung und weiterer schwerer Delikte in Erscheinung getreten. Er kannte Birgit Meier und hatte mehrfach Kontakt zu ihr - auch noch kurz vor ihrem Verschwinden. Es vergehen dreieinhalb Jahre, ehe die Ermittlungsbehörden mit einem Durchsuchungsbefehl vor Wichmanns Tür stehen.

Fatale Fehler bei Hausdurchsuchung

Doch die Beamten machen bei der Durchsuchung fatale Fehler. Sie kommen morgens, als der Verdächtige schon zur Arbeit gefahren ist. Nur seine Frau Alice ist zu Hause. Die Beamten rufen Wichmann im Büro an und bitten ihn, nach Hause zu kommen. Er sagt zu - und taucht unter. Im ersten Stock des Hauses finden die Beamten ein abgeschlossenes Zimmer mit schallisolierter Tür, zu dem Alice Wichmann keinen Zutritt hat.

In Geheimverstecken finden sie Kleinkaliberwaffen, Schalldämpfer, Messer, Elektroschocker, Dolche, Betäubungsmittel, Spritzen, Fesseln und jede Menge Munition. An einem Paar Handschellen entdecken sie eingetrocknete, reiskorngroße Blutspritzer. Wochen später rückt das BKA an und durchsucht das gesamte Grundstück. Im steilen Hang hinter dem Haus finden die Beamten einen komplett vergrabenen Sportwagen. Der Leichenspürhund schlägt am Kofferraum an. Doch der Verdächtige bleibt verschwunden.

Festnahme des Tatverdächtigen

Es passieren weitere Pannen. Wochen nach seiner Flucht wird Kurt-Werner Wichmann schließlich in Süddeutschland festgenommen. Er hat einen Verkehrsunfall verursacht. Die Polizisten in Heilbronn finden bei der Überprüfung seines Autos eine auseinandergebaute Maschinenpistole und 100 Schuss Munition. Wichmann kommt in Untersuchungshaft. Wenige Tage später erhängt er sich in seiner Zelle. Er hat an seine Frau einen Abschiedsbrief voller versteckter Hinweise hinterlassen.

Keine Ermittlungen gegen den Mörder

Gegen Tote, so will es das Gesetz, darf nicht ermittelt werden. Die Akte wird geschlossen, die Verfügung wird getroffen, alle Asservate zu vernichten. Ein nicht wieder gut zu machender Fehler. Man hätte weiter ermitteln können und müssen. Denn Wichmann hatte wahrscheinlich Mittäter: Zeugen haben in der Nacht, in der Birgit Meier verschwand, das Geräusch eines laufenden Automotors gehört. Möglicherweise der wartende Komplize. Und so bleibt das Rätsel um Birgit Meier ungeklärt: War Wichmann der Mörder? Wen hat er noch auf dem Gewissen? Die Funde sprechen schließlich dafür, dass noch weitere schwere Verbrechen begangen wurden.

Ein altes Foto von Birgit Meier. © NDR
Birgit Meier, wenige Monate vor ihrem Verschwinden.
Sielaff stellt ein eigenes Team zusammen

Jahrelang halten die Lüneburger Polizisten Wolfgang Sielaff hin und beteuern jedes Mal, alles Menschenmögliche zu tun. Zu Beginn der 2000er-Jahre geht Sielaff in den Ruhestand. Er beantragt Akteneinsicht - und fällt aus allen Wolken, als er die Ermittlungsfehler und Versäumnisse der Lüneburger erkennt. Schließlich sammelt er die besten Weggefährten, vom Gerichtsmediziner bis zum Staatsanwalt, in seinem "Kernteam" um sich und rollt den Fall neu auf. Das Kernteam entwickelt neue Ansätze und bringt die Lüneburger schließlich dazu, zwei neue Ermittlungsgruppen zu gründen. Die EG Iterum (Wiederaufnahme des Falles) und die EG Göhrde.

Die EG Iterum findet nach neun Monaten Ermittlungsarbeit bei der Rechtsmedizin Hannover ein Asservat, das der Vernichtung entgangen ist: die Handschelle mit den Blutstropfen. Dank neuer DNA-Methoden steht bald fest: Es ist das Blut von Birgit Meier. Sie war also in der Gewalt von Kurt-Werner Wichmann. Die EG Göhrde arbeitet die Akten und die vorhandenen Asservate der Göhrde-Morde noch einmal auf. Dabei werden nun auch Klebefolien ausgewertet, mit denen 1989 Faser-Spuren von den Sitzen der Opfer-Autos gesichert worden waren. Ohne es zu wissen, haben die Beamten damals auch Hautschuppen mit aufgeklebt - und damit DNA-Spuren. Mit moderner Technik können nun diese ausgewertet werden. Und es findet sich die DNA von Kurt-Werner Wichmann.

Was ist mit Birgit Meier passiert?

Die Lüneburger Polizei schließt den Fall Birgit Meier als aufgeklärt ab - auch wenn ihre Leiche noch nicht gefunden wurde. Doch Wolfgang Sielaff und seiner Familie lässt das Schicksal von Birgit keine Ruhe.

Sie konzentrieren sich auf das Haus von Kurt-Werner Wichmann. In dessen Garage ist eine KFZ-Grube. Am 29.9.2017 lässt das Kernteam hier den Beton aufmeißeln. In einer Ecke der Grube stoßen sie - vor der Kamera des NDR-Teams - auf einen Hohlraum. Und im Sand dieses Hohlraumes auf menschliche Knochen - die Knochen von Birgit Meier. Die Obduktion ergibt, dass Birgit Meier mit einem Kopfschuss getötet wurde. Genau wie mindestens eines der Göhrde-Opfer und wie ein weiteres Mordopfer aus dem Jahr 1968.

Dokumentation zeichnet den Fall nach

Die 90-minütige NDR Dokumentation zeichnet diesen unglaublichen Fall eindrucksvoll nach. Das Team durfte drei Jahre lang Wolfgang Sielaff und seine Mitstreiter, aber auch Ermittler und Angehörige der Opfer exklusiv begleiten. So waren Kameras bei allen entscheidenden Momenten mit dabei. Auch in dem Moment, als die Truppe um Wolfgang Sielaff auf die Knochen seiner Schwester stieß. Die Macher konnten als einziges TV-Team in der "Kammer des Schreckens", in der der Serienmörder Kurt-Werner Wichmann seine Taten plante, drehen, ehe diese im Zuge der letzten Durchsuchung zerstört wurde.

Warum konnte nach dem Tod von Wichmann weiter ermittelt werden?

Allgemeine Ermittlungen zum Beispiel gegen Unbekannt oder noch lebende Personen waren im Fall von Birgit Meier weiterhin möglich. Später ging die Kriminalpolizei davon aus, dass Wichmann einen, noch lebenden, Mittäter hatte. Auch da waren Ermittlungen möglich.
Die private Soko von Wolfgang Sielaff bewegt sich in einem Grenzbereich. Die Juristen in der Gruppe haben die rechtliche Grundlage so bewertet: Angehörige dürfen nach ihren vermissten Verwandten suchen. Allerdings dürfen sie mit ihren Nachforschungen die Arbeit der Polizei nicht behindern. Die Gruppe um Sielaff hat ihre Erkenntnisse immer wieder mit der Lüneburger Polizei geteilt und auch die Suchmaßnahmen auf dem Grundstück von Wichmann waren angekündigt. Die Gruppe um Sielaff durfte im Gegensatz zur Polizei auch gezielt gegen Wichmann "ermitteln". Allerdings ging es dabei nicht um Ermittlungen im juristischen Sinne, sondern um Recherchen. Sielaff und seine Mitstreiter konnten zwar auf ihre kriminalistischen Erfahrungen zurückgreifen, polizeiliche Befugnisse wie DNA Abgleich, Hausdurchsuchungen oder Kriminaltechnik hatten sie aber nicht.

Regie
Björn Platz
Autor/in (Drehbuch)
Kamera
Sven Wettengel
André Bacher
Esther Finis
Schnitt
Christian Bolz
Grafik
Fritz Gnad
Musik
Martin Glos
Christian Ziegler
Sprecher/in
Philipp Schepmann
Bildtechnik
Christoph Fobbe
Produktionsleiter/in
Michael Schinschke
Redaktion
Florian Müller

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Die 90er-Jahre