Live-AD: Der große ESC und ein kleines Waterloo
Daniel Kaiser hat den ESC-Vorentscheid auf dem zweiten Tonkanal für Blinde und Sehbehinderte beschrieben. Ein Erfahrungsbericht seiner ersten Live-Audiodeskription.
"Die Bühne ist dunkel. Nur ein diagonaler Lichtstreifen fällt auf das Gesicht des Sängers." Vier Sekunden. Mehr Zeit habe ich nicht, bevor Ryk zu singen beginnt. Ich lerne schnell: Audiodeskription lebt vom perfekten Timing. Millimeterarbeit sozusagen! Beim "Tatort" kein großes Problem - die Texte sind dort ja aufgezeichnet und bereits in den Film reinproduziert ("Der Mann steht auf und öffnet die Tür."). Bei einer Liveshow sieht das nochmal anders aus.
Sinnliches Fernseherlebnis
Mit wenigen Worten hilft die Audiodeskription blinden Zuschauerinnen und Zuschauern, ein noch sinnlicheres Fernseherlebnis zu bekommen. Ich habe mich sehr gefreut, als Uschi Heerdegen-Wessel, die Leiterin der Barrierefreien Angebote im NDR, mich gefragt hat, ob ich nicht bei der Live-Bildbeschreibung beim Eurovision Song Contest mitmachen möchte. Als Leiter der Kulturredaktion von NDR 90,3 und Podcast-Host (Feel Hamburg und eat.READ.sleep) habe ich zwar schon genug zu tun, finde das Projekt aber spannend. Und so sitze ich jetzt in einem gefühlt fensterlosen Raum in Lokstedt vor einem Bildschirm und beschreibe den deutschen ESC-Vorentscheid - gemeinsam mit Jan Möller, der als Sportreporter und Fußballkommentator für Blinde schon fast ein alter Hase im AD-Kosmos ist.
Die Schönebeger reden lassen
Anders als bei einer Audiodeskription im Fußball, bei der die Herausforderung ist, ununterbrochen zu reden, geht es beim ESC allerdings darum, nicht die Musik zuzuquatschen und die Wortbeiträge der Moderatorin (und wir alle wissen: bei Barbara Schöneberger sind derer viele) zur Geltung kommen zu lassen. Das heißt, es bleiben nur einige wenige Wort-Inseln, in denen man brutalstmöglich effizient, gleichzeitig aber möglichst fluffig-locker und unterhaltsam das beschreibt, was zu sehen ist.
Sprachliches Feilen am Bühnenbild
Im Vorfeld hatten wir in Workshops mit den ESC-Sendungen der vergangenen Jahre ein Gefühl für Timing und Wording bekommen. Am Tag der Sendung sehen wir uns gemeinsam mit Redakteur Martin Ovelgönne Stunden vorher die ESC-Durchlaufprobe an, feilen gemeinsam an Formulierungen, die möglichst präzise sind und sich nicht scheuen, auch komplizierteste Bühneneffekte in Worte zu fassen. An manchen Bühnenbildern schrauben wir sprachlich zehn Minuten lang. "Da hast du noch Zeit für einen Satz. Dass Ryk mit geschlossenen Augen singt, kannst du da unterbringen", rät mir Jan.
Showtime!
Dann ist es 22.20 Uhr. Showtime! "Herzlich willkommen zur Live-Audiodeskription auf dem zweiten Tonkanal", begrüße ich das Publikum über der Eurovisions-Fanfare. Die Show läuft gut. Keine größeren Pannen und Versprecher, finde ich. In der zweiten Hälfte werde ich etwas lockerer, erlaube mir sogar eine ausführlichere Bemerkung über Barbara Schönebergers ohrläppchendehnenden XXL-Papageien-Ohrring.
Einen Waterloo-Moment (eher Napoleon als ABBA - leider) erleide ich allerdings, als Barbara Schöneberger bei ihrem Rundgang durchs Publikum einen Zuschauer auf sein T-Shirt anspricht: "Damit passt du ja genau hier her." Mir wird sofort klar: Ich muss das T-Shirt jetzt beschreiben, damit auch einem Blinden klar ist, was sie meint. Der Mann steht auf. Ich erschrecke. Denn ich weiß, ich habe maximal zehn Sekunden, um mit Worten ein Bild zu erzeugen. Nach einer Schrecksekunde entfährt mir: "Wie soll ich DAS beschreiben?" Aaaaaaaaahhhhhhhh! "Verschiedene bunte Farben gehen auf dem Shirt wie gekräuselte Wellen von unten nach oben ineinander über", würde ich jetzt nach drei Tagen Überlegen sagen. Meine Version im Live-Moment war … nicht so klar, fürchte ich.
Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags
Das war eine aufregende Premiere. Und jede Mühe wert. Diese so wichtige Arbeit im NDR, finde ich, verdient mehr Aufmerksamkeit. Was die Kolleginnen und Kollegen da hinter den Kulissen in liebevoller Kleinarbeit leisten, ist gelebte Inklusion - Symptom einer letztlich gerechteren Gesellschaft und so ein Bilderbuch-Kapitel des öffentlich-rechtlichen Auftrags. Jetzt freue ich mich auf die großen ESC-Shows in Malmö und bin auf alle extravaganten Outfits zumindest innerlich ein bisschen besser vorbereitet.