"Das Floß der Medusa" - Aufregung um ein Oratorium
In der Presse ging es hoch her: "Konzert-Skandal in Hamburg“ (Hamburger Abendblatt), "Ein 80.000-DM-Missverständnis" (Bild), "‘Das Floß der Medusa‘ – gestrandet" (Süddeutsche Zeitung). Der 9. Dezember 1968 bescherte der Musikgeschichte einen handfesten Eklat, und Hamburg erlebte eine der für diese Zeit typischen Protestaktionen der "68er"-Studentenbewegung.
"Ho, Ho, Ho Chi Minh" wurde nicht mehr nur in Berlin, sondern auch in der Hansestadt skandiert. Das Kultur-"Establishment" hatte seinen Skandal – so hatten es sich die demonstrierenden Studentengruppen auch gewünscht. Doch der Verlauf dieses Abends zeigt, wie verunsichert alle Beteiligten waren und wie schwierig es war, neue Formen der Auseinandersetzung zu finden.
Am Anfang stand ein Auftragswerk
Den Ausgangspunkt bildete eine Auftragsarbeit des NDR, der damit seiner Aufgabe als Vermittler und Produzent von Kultur nachkam. Der Sender hatte einen umfangreichen Kompositions- und Libretto-Auftrag an Komponist Hans Werner Henze und Schriftsteller Ernst Schnabel vergeben.
Beide Künstler waren dem NDR eng verbunden; so war Schnabel 1951 bis 1955 Intendant des Hamburger Funkhauses des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) gewesen. Seit den 1960er-Jahren arbeitete er gemeinsam mit Henze für das dritte Radioprogramm des NDR, das sich mit intellektuellen Diskussionen, Literatur und neuester Musik künstlerischen Hochleistungen verschrieben hatte. Beide standen in engem Kontakt mit Franz Reinholz, dem Programmdirektor Hörfunk.
"Das Floß der Medusa"
Erste Pläne für ein neues Oratorium waren im Januar 1966 besprochen, ein Vertrag im August 1967 unterzeichnet worden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Überlegungen der beiden Künstler bereits thematisch soweit gereift, dass klar war: Im Mittelpunkt steht die Geschichte der Fregatte Medusa. Sie kenterte 1816 auf ihrer Fahrt in den Senegal, viele Schiffbrüchige kämpften auf einem Floß kannibalistisch ums Überleben. Ein zeitgenössischer Bericht hatte für Empörung über das unmenschliche Verhalten von Kapitän, Oberschicht und Geistlichkeit gesorgt und die revolutionären Stimmungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts befördert. Hinzu kam das berühmte, durch den Bericht angeregte Gemälde "Le Radeau de la Méduse", das französische Maler Jean-Louis André Théodore Géricault 1819 vorgestellt hatte.
Das Oratorium sollte am 9. Dezember 1968 öffentlich uraufgeführt und gleichzeitig im Abendprogramm des populären Mittelwellen-Programms ausgestrahlt werden.
Irritierende Veränderung
Die Ausarbeitung von Libretto und Partitur verlief reibungslos. Von Januar bis Juni 1968 arbeiteten Henze und Schnabel gemeinsam intensiv an dem Werk. Doch die politischen Ereignisse überschlugen sich und die beiden Künstler reagierten darauf.
Ein erster Streitpunkt zeichnete sich ab, als bekannt wurde, dass das Werk die Widmung "Für Che Guevara" erhalten sollte. Der lateinamerikanische Guerillaführer war im Oktober 1967 in Bolivien hingerichtet worden und avancierte bei den "linken" Protestbewegungen in Mitteleuropa gerade zu einer Ikone. 1968 radikalisierten sich diese Bewegungen. Hintergrund waren der Internationale Vietnam-Kongress, das Attentat auf Rudi Dutschke (den Henze kurz vorher noch kennengelernt hatte) und die Verabschiedung der Notstandsgesetze.
Den NDR Programmverantwortlichen war vor allem Henzes "politischer Sinneswandel" um Ostern 1968 aufgefallen, wie ein interner Bericht festhält. Aber man einigte sich mit dem damals schon berühmten Komponisten, dass das Libretto als Teil des geplanten Programmheftes gedruckt werde, allerdings ohne die politisierende Widmung.
Anstrengende Proben
Bereits im April 1968 war entschieden worden, das "Sonderkonzert" des NDR in der Halle B des Hamburger Parks "Planten un Blomen" stattfinden zu lassen. Eine Besichtigung des Großen Saales der Musikhalle durch Komponist und Bühnenbildner hatte ergeben, dass der Bühnenaufbau mit seinem breiten, nach hinten in Stufen ansteigenden Podium dort nicht zu realisieren war.
Im Mai 1968 fing die Probenarbeit mit dem Chor des NDR, dem RIAS-Kammerchor und dem Knabenchor St. Nikolai Hamburg an. Die Orchesterproben begannen im November 1968. Die Solo-Partien waren mit Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau und Charles Regnier äußerst prominent besetzt. Vom 25. November an übernahm Komponist Henze das Dirigat. Die Proben mit dem Maestro waren anstrengend, verliefen aber harmonisch, wie sich Margot Fehling, eine der Sängerinnen des NDR Chores, erinnert.
- Teil 1: Am Anfang stand ein Auftragswerk
- Teil 2: Verstörende Begleitmusik