"Das Floß der Medusa" - Aufregung um ein Oratorium
Karl-Heinz Großmann, leitender Mitarbeiter beim NDR, war einer der insgesamt etwa 1.200 Gäste in der Halle. Er wusste, dass auf das Premieren-Publikum ein "spannender Musikabend" wartete. Mit einem Eklat freilich, mit Handgemenge, Polizeieinsatz und Verhaftungen, mit einem Abbruch habe er nicht gerechnet.
Dabei hatte es Anzeichen für mögliche Proteste gegeben. Die Zeichen der Zeit standen bereits auf Sturm. Ein Auslöser war die Vorberichterstattung in der Presse. Das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" hatte polemisch auf die Widersprüche in der Person Henzes hingewiesen, auf den "Privatier der modernen Musik", dessen "Floß" nur vordergründig für die "Weltrevolution" fahre, sondern vielmehr "im Sog der Konterrevolution" treibe. Und die zum Verlag Axel Springer gehörende "Hör zu" kündigte die Übertragung weiterhin als "Musik für ‚Che‘" an.
Zwei Flugblätter schüren die Unruhe
Das alles bot einen willkommenen Anlass, über Kunst und Markt, Ästhetik und "Bewusstseinsindustrie" zu streiten, Themen, die in diesen Monaten landauf, landab lebhaft diskutiert wurden - nicht zuletzt mit Aktionen, die die Störung zum Prinzip erhoben. Werner Hill, damals Mitglied der politischen Redaktion und des Redaktionskollegiums des dritten Radioprogramms, hatte Henze kurz vor der Premiere für das "Echo des Tages" interviewt. Darin betonte der Komponist, wie sehr er sich freuen würde, wenn "die ziemlich isolierte und vereinsamte und allein gelassene Jugend eine Art Ermutigung" bekomme.
Am Abend beobachtete Hill dann, wie die Jugend in Form eines gut gekleideten "APO-Establishments" zur Aufführung erschien, so unter anderem die Berliner SDS-Projektgruppe "Kultur und Revolution". Sie protestierte gegen ein "bourgeoises Publikum" und gegen eine "kapitalistische Kulturindustrie", die wahre "revolutionäre Kunst" verhindere. Ihr Konzept, Aufführungen zu sprengen, war mehrfach erprobt - speziell den Hamburger Skandal, ausgelöst durch ihr Flugblatt "In Sachen Henze", schrieb sie sich als großen Erfolg zu, wobei es jedoch gar nicht gegen den Komponisten ging.
Auch die Proteste der Hamburger Studenten aus der Musikhochschule richteten sich nicht gegen Henze. Sie protestierten gegen das Konzert als "Ritual", das "für ein bourgeoises Publikum zelebriert" werde. Der "Arbeitskreis Sozialistischer Musikstudenten" forderte die "Anwesenden" auf, gemeinsam "neue Modelle der Musikausübung" zu diskutieren und zu entwickeln.
"Enteignet die Kulturindustrie"
Die zeitbedingt charakteristische Politisierung der Bühne lief an diesem Abend jedoch aus dem Ruder, die Stimmung eskalierte schrittweise. Die Menschen an den Radios wurden Zeugen von Rufen wie "Enteignet die Kulturindustrie!" und "Fahne weg!", was sich auf eine mittlerweile entrollte rote Fahne auf der Bühne bezog. Mit dem skandierenden Sprechchor "Wir kommen aus Berlin!" weigerte sich der RIAS-Kammerchor zu singen und forderte die Entfernung der Fahne. Erst nach knapp acht Minuten Live-"Atmo" meldete sich ein Reporter; nach über einer Viertelstunde verkündete Franz Reinholz den Zuhörerinnen und Zuhörern, dass nunmehr die aufgezeichnete Generalprobe ausgestrahlt werde.
"Ho Ho Ho Chi Minh" und Polizeieinsatz
Während die Radiohörer also das Oratorium zu hören bekamen, ging im Saal die Diskussion weiter, ein regelrechter Tumult entstand, bis schließlich die Polizei einschritt. Es kam zum Streit, vor allem als der stellvertretende Intendant des NDR, Ludwig Freiherr von Hammerstein-Equord, eingriff und die rote Fahne entfernte. Die Polizei, mit der der NDR vorab zum Schutz der Mitwirkenden sowie der Instrumente und der Übertragungstechnik gesprochen hatte, schritt mit einem massiven Aufgebot ein und sorgte für eine Eskalation.
Ein Handgemenge entstand. Es gab Verhaftungen, darunter die von Ernst Schnabel, der dabei verletzt wurde und dem später in einem langwierigen Gerichtsverfahren "Widerstand gegen die Staatsgewalt" und "Gefangenenbefreiung" vorgeworfen wurde. Hans Werner Henze war im Radio zu hören mit dem Ausspruch "Ich distanziere mich von der Brutalität der Polizei!" Die "Ho Ho Ho Chi Minh"-Rufe der Studenten wurden schließlich von Henze rhythmisch angefeuert, wie sich der Hamburger Musikwissenschaftler Peter Petersen erinnert, der damals als Musikstudent mit seiner Frau staunend im Publikum saß.
33 Jahre später: Die Uraufführung
Nach der geplatzten Uraufführung verfolgte der NDR publizistisch eine Strategie der Schadensbegrenzung. Auf "Störungen" sei man vorbereitet gewesen, jedoch nicht auf "Tumult", so Reinholz am 10. Dezember 1968. Extrem verstimmt war man über das Verhalten des Komponisten Henze, der sich demonstrativ mit den protestierenden Studenten solidarisiert hatte. Bei der Lektüre der Flugblätter erscheint das allerdings auch nicht verwunderlich, denn die Proteste richteten sich ja ausdrücklich nicht gegen Henze, sondern gegen den traditionellen Kulturbetrieb. Der NDR bewertete dies jedoch als Vertrauensbruch. Schließlich hatte er dieses Werk ermöglicht, dessen Uraufführung vorerst verhindert worden war. Erst 2001 kam es in Hamburg auf die Bühne, unter der Leitung von Ingo Metzmacher, dem damaligen Generalmusikintendanten der Hamburgischen Staatsoper.
Unverständnis auf allen Seiten
Aus heutiger Sicht erscheint der "68er"-Konzertcoup als ein Ereignis, das große Verunsicherungen offenbarte. Die Hamburger Polizei reagierte mit ihrem Kampfeinsatz ganz offensichtlich übertrieben, wie sich auch Werner Hill erinnert. Viele im NDR verstanden nicht, wie die Kultur ermöglichende Rolle des Rundfunks neu definiert werden solle, wenn die "Linke" dieses Engagement als "staatliche Subvention" begreife. So trieb das "Floß der Medusa" im Fahrwasser der "68er"-Umbrüche. In der Folge mussten traditionelle Rollen überdacht und neue Formen der kritischen Auseinandersetzung gefunden und eingeübt werden.
- Teil 1: Am Anfang stand ein Auftragswerk
- Teil 2: Verstörende Begleitmusik