Kultur im Radio - von "Spielzeiten" und "Herausgebern"
Diese Idee war beim NDR von Anfang an mit zwei prominenten Namen verbunden, auf die die Vorstellungen ideal passten.
Gründungs-„Herausgeber“ dieses Versuchs wurden Ernst Schnabel und Rolf Liebermann. Beide waren im Rundfunk keine Unbekannten. Schnabel hatte seit 1946 für den NWDR in verschiedenen Funktionen gearbeitet, zuletzt von 1951 bis 1955 als Intendant des Hamburger Funkhauses des NWDR. Liebermann hatte bis 1959 die Musikabteilung des NDR geleitet. Zu Beginn der 1960er-Jahre waren sie jedoch inzwischen als freier Schriftsteller in Berlin bzw. als Intendant der Hamburgischen Staatsoper tätig. Beide waren prominent, erfahren, gut vernetzt und künstlerisch anspruchsvoll.
Die beiden Drei-Jahres-Verträge waren bald unterzeichnet. Lediglich in Absprache mit dem Intendanten und dem Hörfunk-Programmdirektor sollten sie den ambitionierten Kulturradio-Versuch durchführen und so noch einmal die Leistung des Hörfunks auf diesem Gebiet unter Beweis stellen.
Kooperation mit dem SFB
Hinzu kam die Vereinbarung, diesen Versuch zusammen mit dem öffentlich-rechtlichen SFB in Berlin zu unternehmen. In den 60er-Jahren verschärfte sich der Ost-West-Konflikt. 1961 erfolgte der Mauerbau, Berlin war nun eine geteilte Stadt. Eine Situation, aus der der SFB – hervorgegangen aus dem Studio Berlin des NWDR – eine besondere Verantwortung für die „Hörer in der Zone“, wie es damals hieß, ableitete. Für den NDR bedeutete eine Kooperation mit dem SFB die Chance, an einem „Fenster zur DDR“ teilzuhaben.
Außerdem reagierte man auf den Modernisierungsschub, der sich seit Ende der 50er-Jahre bemerkbar machte. Vieles bewegte sich in der Kunst- und Kulturszene, allen voran in der Metropole Berlin. Immer mehr Künstler und Wissenschaftler arbeiteten in der geteilten Stadt, zusammen mit den Studenten entstand eine neue Streitkultur. Auch dies sollte für ein neues kulturelles Programmangebot fruchtbar gemacht werden.
Eine besondere Themenpalette
Theodor W. Adorno, Günter Grass, Igor Strawinsky oder Paul Hindemith stehen stellvertretend für eine lange stattliche Reihe von Professoren, Autoren, Kritikern und Komponisten im Dritten Programm. Sie füllten die Sendeplätze mit Inhalten, die mit Titeln wie „Jazz-Workshop“, „Versuche mit Lyrik“, oder „Gespräche mit ungewissem Ausgang“ um die Gunst des Publikums warben. Täglich wartete das „Dritte“ von 19.30 Uhr bis nach 22 Uhr mit seinem Programm auf. Hinzu kam das wiederholt formulierte Versprechen der Herausgeber, davor und danach „so viel Jazz wie möglich“ zu bieten, was bei jüngeren Hörerinnen und Hörern auf großes Interesse stieß.
Die neue Struktur
Eine weitere Besonderheit dieses Kulturradios war seine Programmstruktur. Wie im Theater- und Opernbetrieb sprachen die Herausgeber von „Spielzeiten“. Diese Spielzeiten erstreckten sich jeweils vom 1. Oktober bis zum 31. Mai. In den Sommerpausen strahlte das „Dritte“ dann Sonderprogramme mit Übertragungen von den großen europäischen Musik-Festspielen aus. Innerhalb dieser Spielzeiten wurden die einzelnen Wochen unter ein mehr oder weniger prägnantes Thema gestellt. Solche Ankündigungen lauteten beispielsweise „Die zweite Woche oder Bestiarium“, „Die neunzehnte Woche oder Am Morgen nach 1001 Nacht“ oder „Die 33. Woche oder Zur Frage des Jahrhunderts“.
Ein durchkomponiertes Programm
Schließlich folgten auch die Wochentage einem „vorbestimmten Charakter“, wie Ernst Schnabel und Rolf Liebermann erklärten. Jeden Samstag stand ein Sinfonie-Konzert bzw. Großes Konzert mit klassischem Repertoire auf dem Programm; am Sonntag hieß es „Theater und Hörspiel“, am Montag Kabarett und Karikatur. Der Mittwoch gehörte der Oper. Jeden Freitag gab es den „weißen Fleck“ – einen Freiraum für aktuelle Fragen und Streitgespräche, „für Kommentierung und Diskussion herausfordernder Zeitereignisse“, wie die Herausgeber betonten.
Sechs Spielzeiten – zwei Herausgeber-Teams
Eine einzige Spielzeit umfasste rund 240 Sendetage mit insgesamt mehreren Hundert Sendestunden. Mehr als die Hälfte davon gehörte dem Wort. Knapp die Hälfte des Musikprogramms entfiel auf den Jazz. Die Medienforschung sprach damals von 200.000 bis 600.000 Hörerinnen und Hörern, die dieses abendliche Radioprogramm einschaltete. Pro Spielzeit erhielten NDR und SFB zwischen 25.000 und 30.000 Zuschriften.
Insgesamt sechs Spielzeiten erlebte das „Herausgeber“-Kulturradio; die beiden ersten leiteten Ernst Schnabel und Rolf Liebermann; ab der Spielzeit 1965/66 übernahmen Samuel Bächli und Hans Werner Henze die Herausgeberschaft. Walter Höllerer, der bereits seit 1962 beratend dabei war, trat als dritter Herausgeber hinzu.
Das erfolgreiche Modell mit prominenten Personen aus Literatur und Musik wurde fortgesetzt. Bächli, ein Vertreter des Kulturradios in der Schweiz, übernahm die Geschäftsführung von Schnabel. Henze, ein umtriebiger Komponist und Musikschaffender, führte Liebermanns Engagement fort. Höllerer, Schriftsteller, Herausgeber und Literatur-Professor, verkörperte buchstäblich den Intellektuellen, der keine Gegensätze zwischen Dichter und Wissenschaftler, zwischen Literat und Literaturvermittler mehr kannte.
Der Schritt zurück
Mit der Spielzeit 1967/68 wurde das Experiment des „Herausgeber-Radios“ eingestellt. Die Verantwortung für das kulturelle Programmangebot ging wieder voll und ganz an die festangestellten Rundfunkredakteure zurück. So wurde beim NDR Christian Gneuss geschäftsführender Redakteur eines Teams, das von 1. Oktober 1969 an das umfassende Kulturradio-Angebot erarbeitete.
Das Ende des Experiments, mit zusätzlichen Herausgebern zu arbeiten, hatte sich seit 1967 abgezeichnet. Unterschiedliche Programmkonzeptionen wurden damals diskutiert, darunter die Idee, ein reines Musikprogramm zu bieten. Oder die Überlegung, lediglich an zwei Tagen in der Woche „Sonderprogramme“ mit „größeren Wortblocks“ zu bringen. Die Grundüberzeugung war, dass ein Kulturprogramm sich nicht ausschließlich an eine kleine Minderheit von Studenten und Akademiker wenden dürfe.
Umbau der Kulturradioprogramme
Aber wie sollte man ein breiteres Radiopublikum für ein anspruchsvolles Programm gewinnen? Das dritte Fernsehprogramm erlebte mit seinem Mix an kulturellen und bildenden Angeboten gerade eine überaus positive Entwicklung, was den Radiomachern zwar Anreize lieferte, ihnen aber gleichzeitig auch Sorgen hinsichtlich der Konkurrenzsituation bereitete. In der Presse war von „Ungewißheit“ über die Zukunft des Dritten Programms und von „Unruhe“ die Rede.
Pläne für den Um- und Ausbau eines attraktiven kulturellen Programms wurden gesucht. Die Redaktionen beteiligten sich daran und betonten wieder ihre angestammte Programmverantwortung. Sie machten sich voller Eifer an die Arbeit. Angesichts sich wandelnder Zeitumstände und sich verändernder Mediennutzungsgewohnheiten wollten auch sie weiterhin im Kulturradio eine „freie Bühne für modernes Leben“ liefern – einen Anspruch, den Ernst Schnabel am 1. Oktober 1962 in der Eröffnungsansprache formuliert hatte.
- Teil 1: „Das Dritte Programm will niemanden unterhalten“
- Teil 2: Start mit zwei prominenten Persönlichkeiten