Free Form Jazz und die Anfänge des NDR Jazzworkshops
In den Workshops wurden stets eigens für diesen Anlass komponierte Stücke und Jazzstandards aufgeführt, die in überraschenden Arrangements oder Besetzungen erschienen. Die geradezu traumhaften Arbeitsbedingungen führten nicht selten zu legendären Konzerten. Die Zuhörer im Studio waren damals handverlesen. Die geladenen Gäste hatten zunächst freien Eintritt. Erst unter Gertbergs Nachfolger sollte ein kleines Eintrittsgeld erhoben werden. Die Konzerte erfreuten sich großer Beliebtheit. Kein Wunder also, dass Hans Gertberg sich angesichts dieser Nachfrage bald gezwungen sah, den gleichbleibend kleinen Rahmen der Jazzworkshops vor den Fans zu rechtfertigen - und dies mit viel Verständnis für die Zuhörer tat.
Klangherausforderungen - "Modern Jazz" im Norden
Mit diesem sehr modern und international ausgerichteten Programmangebot ging der NDR in Opposition zum Dixieland- und New-Orleans-Jazz, die vom britischen Soldatensender BFN gespielt wurden, wie Gabriele Benedix, die Leiterin des Hamburger Jazzbüros, in ihrer Diplomarbeit "Die Geschichte der Hamburger Jazzszene“ feststellte. Im hohen Norden bedurfte es also besonderer "missionarischer“ Arbeit für diese moderne Art des Jazz.
Um seinen Zuhörern die präsentierten Musikstücke näherzubringen, nutzte Hans Gertberg alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel. So verschickte er beispielsweise individuelle Einladungsschreiben, in denen er das Publikum auch schon einmal regelrecht vor der bevorstehenden Klangherausforderung warnte. In der Einladung zum 41. Jazzworkshop, an dem neben Musikern wie Steve Lacy, Attila Zoller und Hans Koller auch zwei der international bedeutendsten Free Jazz Musiker, Paul und Carla Bley, mitwirkten, betonte Gertberg vorsorglich: "Bitte beachten Sie: Free from Jazz … Das wird kein Ohrenschmaus im herkömmlichen Sinne. Sie haben vielleicht dies und jenes darüber gelesen, so dürfen wir Sie bitten, diesmal besonders gründlich zu erwägen, ob Sie dabei sein möchten: Danke im Voraus."
An anderer Stelle stimmte Hans Gertberg die Zuhörer mit langen erläuternden Ansagen auf die Konzerte ein und führte auf Vermittlung bedachte Pausengespräche. Im Interview mit den Workshop-Musikern verband Gertberg fachmännische Diskussionen über stilistische Veränderungen im Jazz mit simplen Begriffserklärungen für die Jazzneulinge.
Gertbergs "kleiner Völkerbund im Zeichen des Jazz"
Zwar waren alle vorherrschenden Jazzstile in den Workshops vertreten, der Schwerpunkt lag für Gertberg - genauso wie für seine Nachfolger - jedoch vor allem auf dem Modern Jazz und hier besonders auf dem Bebop, Hardbop und Cool Jazz. Erst später kamen neuere Stilrichtungen wie Fusion, Jazz-Rock und Weltmusik hinzu.
Gertberg lud viele deutsche Modern Jazzkünstler ein, unter ihnen die damals jungen Musiker Wolfgang Schlüter, Michael Naura, Rolf Kühn und Albert Mangelsdorff. Neben ihnen und vielen Jazz-Größen aus den USA fanden auch - dem Zeitgeist entsprechend - zahlreiche (ost-)europäische Künstler durch die Workshops ihren Weg nach Hamburg. Ihnen widmeten sich besonders vier Workshops in den Jahren zwischen 1965 und 1970. Mit Titeln wie "Six Degrees East - Six Degrees West"oder "Five Degrees East - Five Degrees West"spielte man auf die Komposition "Two Degrees East, Three Degrees West” von John Lewis an. Gertbergs Engagement war es, das geteilte Europa musikalisch zu vereinen.
Nie einfach, aber immer neu
Mit dieser speziellen Konzeption der Jazzworkshops schuf der NDR schon in den 50er-Jahren ein Format, das sich mit Leichtigkeit über ein halbes Jahrhundert hinweg gehalten und dabei immer neu erfunden hat. Dass solche internationalen musikalischen Zusammenkünfte alles andere als einfach sind, liegt auf der Hand.
Doch es war eine ständige Herausforderung, die sich lohnte, wie Hans Gertberg - durchaus mit einer Prise Humor - schon in seiner Ansage zum zweiten Jazzworkshop-Konzert treffend zusammenfasste: "Wenn so viele Temperamente zusammenkommen … Sie können es sich vorstellen - sieben ist ja schon sehr viel; sieben Musiker auf einem Haufen - das können Sie ruhig, auf uns einfache, schlichte Bürger angewandt, multiplizieren, etwa mit 20. Dann haben Sie es so etwa. Wenn so viele Temperamente zusammenkommen, dann ist ein richtiger Workshop - nämlich eine Werkstatt - beieinander, wo gehobelt wird und wo auch die Späne fallen. (…) Ich glaube, heute Abend aber, werden wir ein sehr, sehr schönes - und ich muss jetzt beim Bild bleiben - Möbelstück hier erleben."
Mit herzlichem Dank für die Unterstützung durch die Forschungsstelle Geschichte des Rundfunks in Norddeutschland.
- Teil 1: Große Resonanz nicht nur im deutschen Radio
- Teil 2: Mehr Fans als Sitzplätze