NDR 1 Radio MV: Bau auf, bau auf!
Was macht der schleswig-holsteinische Mensch, wenn er journalistisch monatelang immer wieder durch die Nordbezirke der DDR tobt und für die Welle Nord berichtet über Barlach in Güstrow, die Kunsthalle in Rostock oder den bald zügigen Abbau der Verlage in Berlin-Ost?
Er führt Beitragslisten. Und als der NDR dann tatsächlich Mitarbeiter für das geplante neue Landesfunkhaus in Mecklenburg-Vorpommern sucht, da bewirbt er sich mit diesen seinen gesammelten Werken zum ersten Mal in seinem Leben. Und dann soll er sich vorstellen in der Schweriner Schlossgartenallee.
Einreise und ...
Als er vorfährt, ist das Tor verrammelt, der Wachmann im quadratisch praktischen Wachhaus daneben trägt trotz des NDR Dienstwagens ungesunde Skepsis im Gesicht - es dauert, bis sich das Tor öffnet. Der Mensch solle in die Villa, die hochherrschaftliche da rechts. Doch da herrscht Hektik. Unrasiert und fern der Heimat die Herren Journalisten, Gerd Schneider, der (zukünftige?) Direktor sei nicht in Schwerin, auch sein Vertreter Jürgen Hingst, der (zukünftige?) Aktuell-Chef sei im Stress, auch sonst habe niemand Zeit. Warten sei angesagt. Ach ja, DT 64-Anhänger hätten gedroht, das Funkhausgelände zu stürmen, der Jugendsender DT 64 solle eingestellt werden, und man wisse ja nie. Die freundliche Sekretärin Anke Engelhardt bringt Kaffee, später frisch belegte Brötchen, sie versucht, den Menschen zu unterhalten, fragt nach, man kommt ins Gespräch.
... Ausreise
Nach Stunden trägt jemand einen Stapel Bandkartons herein: Das sei die neue "Niederdeutsche Chronik" für die kommende Woche auf NDR 4, die müsse noch produziert werden, das schaffe Jürgen Hingst hier nicht, ob der Mensch? Und nach Braunschweig müsse das dann, zu Klaus Verhey. Der Mensch kann. Er steigt in den NDR Dienstwagen, die Bandkartons liegen auf dem Rücksitz, er fährt gen Westen, es wird früh dunkel in Deutschland, kaum Lichter in den Dörfer, keine Menschen auf der Straße.
Einmal Osten und nicht zurück
Der Plattenbau auf dem großen Dreesch, ehemals Arbeiterwohnheim, hat kleine Zimmer à la Jugendherberge, Bad und Toilette im Flur, und große Zimmer inklusive Bad und Toilette. Der Mensch bekommt ein kleines, frisch geweißt, kein Frühstück, kein Abendessen, die Tanke ein paar hundert Meter entfernt verdient sich dumm und dämlich.
Das erste Büro beim NDR in der Schlossgartenallee liegt in der Villa (der hochherrschaftlichen, siehe oben), im Keller, gleich neben der Dusche: drei große aneinandergeschobene Schreibtische, grau, ein Telefon, grau, ein Schrankregal, grau, eine Schreibmaschine, grau, sonst nix. Die beiden Kollegen kommen aus Hamburg: Clemens Paulsen und Carsten Vick. Sie sind cleverer und haben alles dabei: Stifte, Schreibmaschinenpapier, Aktenordner, die Bürogrundausstattung. Wir telefonieren nach Wittenberge und landen in Stralsund. Wir rufen in Stralsund an und landen in Dresden. "Teilnehmer" brüllt jemand in den Hörer. Die erste Pressekonferenz in Gadebusch, die Stadt will über die zukünftige städtische Entwicklung informieren. PK-Termin 8.00 Uhr. 8.00 Uhr morgens? Wie 8.00 Uhr morgens?
Sprache verbindet ... nicht immer!
Alle begegnen sich zurückhaltend. "Guten Morgen" sagen die Einheimischen, die Zugereisten sagen "Hallo". Zwei Monate später: Die Einheimischen sagen "Hallo", wir sagen "Guten Morgen". Die Zugereisten werden zu Beratern in Versicherungsfragen, die Einheimischen schließen dann doch ab, was sie für richtig halten. Es gibt Aussprachelisten für die gebürtigen Westbürger: Strálsund statt Stralsúnd, Kónsum statt Konsúm, Meeecklenburg statt Mekklenburg, und ist der Molli nun die Molli oder das Molli oder was? Kein Jahr halten wir das aus, tönt es leise aus dem Keller - na ja ...
Der Mensch ist inzwischen räumlich aufgestiegen, in das riesige graue Gebäude mit den Produktionsstudios, in ein Büro hinter einem sorgsam vergitterten Fenster. Hier hat früher der "Politoffizier" gesessen, heißt es spöttisch, ironisch und auch ein bisschen schadenfroh.
Wir machen Beiträge, Stundensendungen, moderieren und zuckeln durchs Land. Ein Anruf aus einem der Zentralprogramme in Hamburg. Der Beitrag müsse noch einmal gesprochen werden, da sei ein Grammatikfehler drin: Das sei Fakt, heiße es da, den Begriff gebe es gar nicht im Singular. Und an anderer Stelle spreche der Autor von Nachholebedarf, das müsse Nachholbedarf heißen. Sprachgebrauch Ost contra Sprachgebrauch West - man fühlt sich unverstanden, nicht immer, aber immer öfter.
Bau auf, bau auf
Ein Funkhaus-Neubau als Mitgift wirft seine Container voraus. Der Bagger dröhnt, also raus aus dem Produktionscontainer, den Bagger zur Pause zwingen, rein in den Produktionscontainer und aufsprechen, wieder raus: Der Bagger darf weiter rumoren. Riesige Altbänder werden eingesetzt. Hallo? Was sind das für Bänder? Bespielte aus DDR-Zeiten, es gibt keine neuen. Historischer Goldstaub als Recyclingware? Hallo? Und wo sind die beiden "Kunstkaten"-Bänder vom vergangenen Wochenende? Äh, recycelt, vielleicht? Und so kommt es, dass aus den ersten Monaten des NDR in Mecklenburg-Vorpommern kaum Sendungen erhalten sind.
Und dann wurden irgendwann die "Blauen Bücher" (NDR Tarifverträge, Dienstvereinbarungen etc.) allen Redakteuren in die Büros geliefert, und dann wurde manches so wie in Kiel oder in Hannover oder in Hamburg, im NDR halt. Alles? Also wissen Se, also wissen Se, nee ... nicht ganz. Aber das sind andere, ganz andere Geschichten.