Der Start des NDR in Mecklenburg-Vorpommern
Im Herbst 1991 erreicht Gerd Schneider, zu der Zeit Stellvertretender Direktor des NDR Landesfunkhauses Schleswig-Holstein, die Anfrage aus der Hamburger Zentrale, ob er nach Schwerin gehen wolle. Schneider war seit 1982 Hörfunkleiter im Funkhaus Kiel und hatte im Zuge des neuen NDR Staatsvertrages das Landesprogramm NDR 1 Welle Nord aufgebaut. Zunächst als kommissarischer Direktor, 1992 als Direktor leistete Gerd Schneider mit vielen Kolleginnen und Kollegen mediale Aufbauarbeit im neuen Staatsvertragsland Mecklenburg-Vorpommern.
Erinnern Sie sich noch an den Morgen des 1.1.1992?
Gerd Schneider: Besser an die Nacht. Ich stand mit Jürgen Hingst (damals Reisekorrespondent des NDR in der DDR) im Schweriner Schaltraum. Um 24 Uhr endete das Programm RMV, und um Null Uhr sollte NDR 1 Radio MV auf ein neu sortiertes Sendenetz geschickt werden. Uns allen standen die Schweißperlen auf der Stirn, so neu war die Technik ja nicht. Aber es klappte wunderbar. Das neue Programm mit der NDR Kennung war "on the air". Im "Fritz-Reuter" haben wir dann mit einem Glas Bier angestoßen.
Siegfried Grupe, von 1990 bis 1992 Direktor des damaligen Fernseh-Landessenders Mecklenburg-Vorpommern und späterer N3 Chef im Schweriner Funkhaus sagte in einem Interview: "Nur Begeisterung hält nicht ewig, die Kraft droht nachzulassen, wenn die Perspektive fehlt." Damit meinte er die Situation nach 1990, die Verhandlungen darüber, für welchen Sender sich Mecklenburg-Vorpommern entscheidet: den NDR oder einen Verbund mit Berlin und Brandenburg. Wie haben Sie diese Phase erlebt?
Schneider: Ich war zuversichtlich, dass der NDR das Rennen machen würde. Ich war seit 1990 ständig im Land unterwegs, auch der damalige Intendant Jobst Plog, leitende Mitarbeiter, "Tagesschau"-Sprecher, Moderatoren, wir stellten uns den Fragen, und wir hatten ein solides Angebot. Der NDR war den Menschen vertraut, und es gab diese gemeinsame norddeutsche Identität, Sprache, Kultur, Küstenregion. Die Mitarbeiter wollten zum NDR, einem stabilen, wirtschaftlich gesunden Sender. Und dann wieder Berlin? Nein, die politische Mehrheit war für den NDR, nur die CDU wollte nicht, angeblich auf Geheiß von Helmut Kohl - bis die FDP in dieser Sache die Koalitionsfrage stellte. NORA (Nordostdeutsche Rundfunkanstalt - kurzzeitig geplant von den Ministerpräsidenten Brandenburgs, Berlins und Mecklenburg-Vorpommerns) war eine Luftnummer.
Sie haben in Ihren Erinnerungen zum zehnjährigen Jubiläum des NDR in MV von einem "Weichzeichner" gesprochen, der sich über die Erinnerungen legt. Ist der Weichzeichner noch stärker geworden oder wie sind Ihre Erinnerungen heute?
Schneider: Mit zunehmendem Abstand gelingt eine bessere Draufsicht und das Wesentliche tritt hervor. Natürlich spielt in meinen Erinnerungen eine Rolle, dass wir das schönste Funkhaus des NDR bauen durften, dass wir Pioniere der Digitalisierung waren, erfolgreiche Programme gemacht haben. Was ganz persönlich bleibt und heute noch meinen Alltag bestimmt, das ist die Verbundenheit mit dem Land, seiner Geschichte und Kultur, die Verbundenheit mit den Menschen, die Freundschaften, die entstanden sind, es war die Teilhabe an einem geschichtlichen Prozess, die Teilhabe an einer großen Gemeinschaftsleistung. Das schweißt zusammen. Ich führe heute oft Besucher durch Mecklenburg-Vorpommern, das in 20 Jahren auch mein Land geworden ist
Sie waren von 1993 bis 2007 Direktor des Landesfunkhauses Mecklenburg-Vorpommern und haben bereits seit 1991 den Übergang vom DDR Rundfunk zum NDR vorbereitet, haben also den NDR in MV fast 17 Jahre begleitet und geprägt. Was ist heute Ihr Fazit, Ihre Bilanz, Ihre Wahrnehmung?
Schneider: Ich bin dankbar, dass mir diese einmalige Aufgabe übertragen wurde, sie hat vieles in meinem Weltbild verändert. Festzuhalten bleibt: Der NDR gehört zu Mecklenburg-Vorpommern, als wäre es nie anders gewesen, im besten Sinne Heimatsender. Das ist gelungen mit Fleiß, Verantwortung und Hingabe aber auch mit Klarheit und der Bereitschaft zur Selbstreinigung. Mit "Radio Pomerania", mit den "Zeitreisen", mit dem Geschichtsprojekt "Erinnerungen für die Zukunft" sind bleibende publizistische Leistungen entstanden, mit Gestaltungswillen in der Kulturlandschaft - ich denke an die Backsteingotik, die Musiklandschaft, die Synagoge in Hagenow - hat der NDR über die tägliche Programmarbeit hinaus einen für den Wiederaufbau und die Identitätsfindung notwendigen Beitrag geleistet. Nicht alles hat den schnellen Beifall eingebracht, am Ende aber Glaubwürdigkeit und Vertrauen gefestigt.
Am 15. Januar 2016 erhielt Gerd Schneider von Ministerpräsident Erwin Sellering den Verdienstorden des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Damit wurde Schneider u. a. für seine Verdienste um das Zusammenwachsen von Ost und West und um das deutsch-polnisches Verhältnis gewürdigt.