Gastspiel des NDR Sinfonieorchesters in der Sowjetunion
Auch die 60er-Jahre begannen für das NDR Sinfonieorchester mit zwei spektakulären Reisen. Im Rahmen des deutsch-sowjetischen Kulturaustauschs gastierten Hans Schmidt-Isserstedt und das Orchester im April 1961 zwölf Tage in Moskau und Leningrad, das heute wieder St. Petersburg heißt. Das Musikensemble war das erste Orchester aus einem westlichen Land, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Sowjetunion besuchte.
Großer Jubel - für das Raumschiff
Als die Hamburger Musiker am 12. April 1961 in Moskau landeten, ging ihre Ankunft zunächst im großen Jubel der Bevölkerung unter, denn am selben Tag hatte die Sowjetunion die Welt mit der Nachricht überrascht, das erste bemannte Raumschiff "Wostok" mit dem Kosmonauten Juri Gagarin an Bord habe die Erde in 89 Minuten umkreist. Einige Tage später konnten Schmidt-Isserstedt und der Leiter der NDR Hauptabteilung Musik, Winfried Zillig, als Gäste auf der Ehrentribüne auf den Roten Platz in Moskau sogar zuschauen, wie nur wenige Meter entfernt Staatschef Nikita Chruschtschow Gagarin umarmte. Großen Jubel gab es aber auch bei den Konzerten in Moskau und Leningrad.
Atemlose Stille begleitet das Orchester
Schmidt-Isserstedt äußerte sich später sehr beeindruckt von der Musikbegeisterung des Publikums: "Noch nicht einmal ein Atmen konnte man hören. Oft hatten wir das Gefühl, in einem leeren Haus zu spielen. Ein Drittel aller Plätze sind Stehplätze in der Sowjetunion, und dennoch lässt die Versunkenheit der Menschen nicht die geringste Bewegung zu." Das Publikum wollte nach jedem Konzert die Musiker einfach nicht vom Podium entlassen. Mindestens drei Zugaben standen immer an, und der Dirigent musste schließlich seine Musiker von der Bühne ziehen, "denn sonst stünden wir noch da und spielten". Besonderen Jubel gab es, weil der Solo-Cellist Arthur Troester, der in Odessa geboren worden war, die Zugaben auf Russisch ansagen konnte.
Tief bewegt von der Gastfreundschaft in Moskau und Leningrad waren alle, und nach dem Eindruck des Dirigenten war man kaum je zuvor so liebenswürdig und zuvorkommend behandelt worden. Hohe Anerkennung zollte auch die sowjetische Presse. So schrieb die Zeitschrift "Sowjetskaja Kultura", das NDR Sinfonieorchester könne unbedenklich zu den hervorragendsten ausländischen Ensembles gezählt werden, und fügte noch ein besonderes Lob für Schmidt-Isserstedt an: "Dirigenten, echte große Meister kann man leicht in zwei Gruppen einteilen. Die einen sind Tyrannen, Despoten, die das Orchester eisern in den Händen halten. Die anderen gewähren nach sorgfältiger Vorbereitung dem Orchester im Moment der Aufführung eine gewisse Freiheit, beschränken sich darauf, es anzufeuern, es väterlich sorgsam und sanft wie das Spiel ihrer Kinder zu leiten. Der hervorragende Leiter Hans Schmidt-Isserstedt gehört zweifellos dem zweiten Dirigententyp an."
Künstlerisch und politisch ein großer Erfolg
Die Reise war nicht nur künstlerisch, sondern auch politisch ein großer Erfolg. Beim Einsteigen zum Rückflug wurde dem Dirigenten ein Schreiben von Frau Jekaterina Alexejewna Furzewa, der sowjetischen Kulturministerin, überreicht, in dem es hieß: "Ich gratuliere Ihnen zu dem verdienten Erfolg Ihres hochkünstlerischen unter Ihrer Leitung befindlichen Orchesterkollektivs, um die Hochschätzung, die die sowjetischen Hörer Ihrem Können entgegengebracht haben, zu betonen."
Hals und Beinbruch
Für den Dirigenten persönlich endete die Tournee allerdings etwas unglücklich, denn vor dem letzten Konzert stürzte er auf der Straße über einen Hund und brach sich ein Bein, sodass Winfried Zillig für ihn einspringen musste. In bekannt ironischer Weise meisterte Schmidt-Isserstedt auch diese Situation, wie ein Brief an den NDR Intendanten Walter Hilpert zeigte: "Lieber Hilpert, komme zurück auf Ihre Hals- und Beinbruch-Wünsche anlässlich unserer Reise. Kann leider nur Teilerfolg melden. Der Hals ist noch völlig intakt."
Aus: Hubert Rübsaat (2009): Hans Schmidt-Isserstedt. Ellert & Richter Verlag. Hamburg. S. 137-139.