Bewegende Zeiten - Der "Atlas des Aufbruchs"
Ein viertel Jahrhundert nach der Wiedervereinigung begibt sich ein NDR Team auf Spurensuche im Nordosten Deutschlands. Wie haben die Menschen damals die Zeiten des Auf- und Umbruchs erlebt? In einem trimedialen Sonderprojekt des NDR Landesfunkhauses Mecklenburg-Vorpommern entsteht durch berührende Begegnungen und sehr persönliche Erinnerungen ein lebendiges Bild der damaligen Zeit - ausgestrahlt in der Serie „Unsere Geschichte“ im NDR Fernsehen.
25 Jahre Mauerfall? Nein: 25 Jahre friedliche Revolution! „Das erzählt ja heute keiner mehr. Heute sieht man immer die jubelnden Menschen am 9. November, Berlin, die Mauer fällt, aber wie mühsam das war, dass die Menschen ihre Angst überwunden haben ... das sind die größten und bewegendsten Stunden und Tage meines Lebens gewesen“, erinnerte sich einer von vielen Zeitzeugen sichtlich gerührt für das NDR Sonderprojekt „Atlas des Aufbruchs“. 1989 war der Mann Pastor in Rostock. Sein Name: Joachim Gauck, Bundespräsident.
Der Geruch der Vergangenheit
Ist der Zauber der gelungenen Revolution von 1989 verflogen, reduziert sich die Erinnerung allein auf den 9. November, den Tag des Mauerfalls? Wo bleiben die Geschichten von Angst und Aufbruch im Norden der DDR?
„Riechen Sie mal!“. Auf dem Marktplatz von Güstrow nestelt ein pensionierter Buchhalter hektisch an einer Offizierstasche herum. Er hat sie bei der Besetzung der Stasi-Kreisdienststelle im Dezember 1989 „konfisziert“ und 25 Jahre lang aufgehoben. In seinem Folienbeutel sind angekohlte Aktendeckel. Jeder aus unserem NDR Fernsehteam soll die Nase in den Beutel stecken, den Geruch der Geschichte schnuppern. Auch eine ältere Dame neben ihm. Die beiden kennen sich nicht. Sie zieht ein Foto aus ihrer Kunstledermappe: „Das ist der Ofen im Stasi-Keller, dort lagen die Akten. Hat mein Mann damals fotografiert,“ und zum Reporterteam gewandt: „Sie suchen doch solche Sachen?“.
Erinnerungen zum Leben erwecken
Fotos, Amateurvideos, Plakate, Transparente - was ist geblieben von der gelungenen Revolution 1989? Wann begann für jeden Einzelnen persönlich der Aufbruch in eine neue Zeit? Im Nordmagazin, auf NDR 1 Radio MV und auf ndr.de/mv suchten wir nie gezeigte Überbleibsel und fragten auch, wer sich auf alten Fotos von Stasi-Überwachungskameras wiedererkennt. Die persönlichen Geschichten hinter den Bildern wollten wir zum Leben erwecken, einen „Atlas des Aufbruchs“ entstehen lassen, Ort für Ort.
Wer sich ein umfassendes Bild vom Aufbruch 1989 machen will, muss zwangsläufig auf unveröffentlichte Fotos aus Privatbesitz zurückgreifen. Denn die Quellenlage in Mecklenburg-Vorpommern ist spärlich. Originalfernsehaufnahmen von Demonstrationen aus dem Norden gibt es kaum und das hat Gründe: Die in der DDR akkreditierten Korrespondenten von ARD und ZDF waren nur im Süden der DDR unterwegs, die wenigen Berichte des DDR-Fernsehens spiegeln in ihrer ideologischen Linientreue nicht das tatsächliche Geschehen wider, private Videokameras waren 1989 kaum verbreitet. Nur wenige trauten sich damals zu fotografieren. Wer wollte schon in den Verdacht geraten, für die Stasi zu knipsen? Erhalten sind wenige archivierte Aufnahmen der Volkspolizei und der Staatssicherheit – angefertigt zu erkennungsdienstlichen Zwecken.
Die schwierige Quellenlage findet ihren Niederschlag auch in der regionalen Forschung und infolgedessen in der nachträglichen, medialen Wahrnehmung. Es gibt regelrechte „weiße Flecken“. Wenig ist über die revolutionäre Bürgerbewegung im Norden abseits der großen Städte, in kleineren Orten, auf dem Lande bekannt. Doch es hat sie gegeben. Aus diesem Grunde waren auch die Landeszentrale für politische Bildung und die Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen am NDR Projekt „Atlas des Aufbruchs“ interessiert und stiegen als Partner ein.
- Teil 1: Der Geruch der Vergangenheit
- Teil 2: Ein Bauwagen als Fernsehstudio