Stand: 16.11.2015 10:01 Uhr

Der NWDR und der Kriegsverbrecherprozess

von Hans-Ulrich Wagner

Am 20. November 1945 begann vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg der Prozess gegen mehr als 20 hochrangige Vertreter des NS-Regimes und der Wehrmacht. Als "Hauptkriegsverbrecher" wurden unter anderem der ehemalige Reichsmarschall Hermann Göring, der ehemalige Stellvertreter Hitlers Rudolf Heß und der ehemalige Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer angeklagt. In der britischen Besatzungszone spielte der NWDR mit seiner Reihe "Bericht aus Nürnberg" eine zentrale Rolle.

Der Gerichtssaal in Nürnberg. Der ehemalige Reichsmarschall Herrmann Göring im Zeugenstand. © NDR/Chronos-Film GmbH
Der Gerichtssaal in Nürnberg. Im Zeugenstand: Hermann Göring

Von Anfang an war dieser "Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess" ein großes Medienereignis. Durch die umfangreiche Berichterstattung sollte auch die deutsche Bevölkerung zu einer Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" bewogen werden. Die drei alliierten Siegermächte trugen den Prozess gemeinsam. Sorgfältig bereiteten sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Sowjetunion vor - juristisch, was die Anklageschrift, das Beweismaterial und die Zeugenbefragung betraf; organisatorisch, was den Verlauf des Verfahrens anbelangte. Denn dieser "Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess" sollte den entscheidenden Auftakt für die gesellschaftliche Auseinandersetzung im Nachkriegsdeutschland mit den nationalsozialistischen Verbrechen bilden.

Umbaumaßnahmen für die Medien

Der immensen Bedeutung dieses Prozesses entsprach die Medienpräsenz vor Ort. Im Nürnberger Justizpalast in der Fürther Straße wurde seit August 1945 der Schwurgerichtssaal 600 für den Prozess umgebaut. Alles wurde bis ins Detail geplant und mit neuester Übersetzungstechnik ausgestattet.

Urteilsverkündung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946: Blick auf die Richterbank. © akg-images
Urteilsverkündung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946: Blick auf die Richterbank.

Neben den Tages- und Wochenzeitungen sowie den Magazinen spielte der Rundfunk von Anfang an eine große Rolle bei der Berichterstattung. Im Gerichtssaal ließen die Amerikaner - neben der Pressetribüne - sogenannte Radioboxes installieren, Kabinen, die den Reportern die Möglichkeit gaben, direkt aus den Prozessverhandlungen zu senden. Für die Übertragung wurde im September 1945 das Studio Nürnberg, eine Dependance von Radio München, wieder hergerichtet. Sowohl der Prozessablauf an sich als auch die Berichterstattung sollten optimale Bedingungen haben.

Von diesen Vorbereitungen profitierten jedoch vor allem die zahlreichen ausländischen Berichterstatter. Für deutsche Rundfunkreporter war in Nürnberg zunächst nur ein einziger Platz vorgesehen. Diesen besetzten die an der Organisation maßgeblich beteiligten Amerikaner mit einem Reporter ihrer Radio Section, Gaston Oulmàn. Der damals 47-jährige Journalist mit spanisch-amerikanischer Abstammung berichtete bis zum Ende des Prozesses am 1. Oktober 1946 regelmäßig für seinen Haussender Radio München. Viele seiner Kommentare wurden von den angeschlossenen Sendern in den Besatzungszonen übernommen.

Zweifelhafter Ruf

Um Oulmàns Biografie rankte sich eine Reihe von Gerüchten. Offensichtlich hatten die Amerikaner einen im "Dritten Reich" wegen Hochstapelei verurteilten Zuchthäusler in diese wichtige Position als Kommentator gehievt. In Wahrheit war Gaston Oulmàn, der sich auch Walter Ullmann und Jo Lehmann nannte, nämlich ein Mann mit recht zweifelhafter Biografie: Er war seit Mai 1933 Mitglied der NSDAP. Außerdem war er während des Spanischen Bürgerkrieges Zeitungskorrespondent und wurde von den Franco-Truppen nach Deutschland ausgeliefert. Im Mai 1937 wurde er von der NSDAP wegen Steuerhinterziehung ausgeschlossen und wanderte für den Rest der NS-Zeit ins Gefängnis. Ganz offensichtlich aber war es Oulmàn gelungen, sich den Amerikanern bei Kriegsende als Verfolgter des NS-Regimes zu präsentieren.

Das Rotationsprinzip

Oulmàn war zunächst der einzige deutsche Journalist, der regelmäßig aus Nürnberg für den Rundfunk berichten konnte. Dabei waren sich die Besatzungsbehörden einig, dass gerade Deutsche zu den Deutschen sprechen sollten. Doch die Plätze für die Berichterstatter waren ebenso begehrt wie begrenzt.

Aus diesem Dilemma fand man folgenden Ausweg: Ein Rotationsprinzip gewährte deutschen Journalisten jeweils für einige Tage Zugang zum Gerichtsgebäude. Mit Hilfe einer "temporary license" konnten sie an einigen Verhandlungstagen vor Ort im Gerichtssaal in Nürnberg dabei sein, mussten dann ihren Sitz jedoch wieder anderen deutschen Kollegen zur Verfügung stellen. Neben den Berichten und Kommentaren für die Presse entstand so auch eine Reihe von Texten, die während des Prozesszeitraums in den Programmen der Sender zwischen Hamburg und Stuttgart, zwischen Baden-Baden und Berlin ausgestrahlt wurden.

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