Stand: 20.04.2021 16:01 Uhr

NDR distanziert sich vom Dokumentarfilm "Lovemobil"

Der preisgekrönte und vom NDR mitproduzierte Kino-Dokumentarfilm "Lovemobil" der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss zeigt in weiten Strecken Szenen, die nicht authentisch sind. Das haben Recherchen der NDR Redaktion STRG_F ergeben. STRG_F hat im Zuge der Recherchen mit Protagonist*innen des Dokumentarfilms, der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss sowie dem NDR Redakteur gesprochen, der den Film "Lovemobil" betreut hat.

VIDEO: Zu schön, um wahr zu sein? Lehren aus "Lovemobil" (46 Min)

"Lovemobil" soll zwar auf Basis von langjährigen Recherchen der Autorin entstanden sein, aber zentrale Protagonist*innen des Films schildern nicht ihre persönlichen Erfahrungen, sondern spielen eine Rolle. Zahlreiche Situationen sind nachgestellt oder inszeniert.

Warum stellt der NDR Lovemobil nicht wieder online?

Der NDR hat erwogen, den Film der Öffentlichkeit mit einer Kennzeichnung der inszenierten Szenen zur Verfügung stellen, damit sich jeder ein eigenes Bild machen kann. 
Jedoch möchten einige der Darsteller*innen aus dem Film nicht mehr gezeigt werden. Wir möchten dem Wunsch der Betroffenen entsprechen und werden den Film daher momentan nicht mehr veröffentlichen.

Doku wurde mit Dokumentarfilmpreis 2020 ausgezeichnet

"Lovemobil" ist ein Kino-Dokumentarfilm, der unter anderem aus Mitteln der Nordmedia Filmförderung finanziert wurde und an dem die NDR Dokumentarfilmredaktion als Ko-Produzent beteiligt war. Der Film schildert das Leben von Prostituierten, die unter entwürdigenden Umständen in Wohnmobilen am Rande von Bundesstraßen in Niedersachsen arbeiten. Er ist weltweit auf Festivals gelaufen, wurde im Juli 2020 mit dem Deutschen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet und war für den Grimme Preis nominiert. Nach Recherchen der NDR Reportageformats STRG_F hat das Grimme Institut die Nominierung bereits zurückgezogen.

Inszenierungen durch NDR Redaktion STRG_F bekannt geworden

Auslöser für die kritische Untersuchung des Films waren Recherchen der NDR Redaktion STRG_F, die Informationen aus dem Umfeld der Produktion bekommen hatte und nach eigenen Nachforschungen auf Unstimmigkeiten stieß. Im Interview mit STRG_F räumt Elke Margarete Lehrenkrauss ein, es versäumt zu haben, den NDR über die Inszenierungen zu informieren. Sie bereue das und behauptet zugleich, der NDR habe nicht nachgefragt.

Elke Margarete Lehrenkrauss verteidigt gegenüber STRG_F ihre Vorgehensweise: "Ich kann mir auf jeden Fall nicht vorwerfen, die Realität verfälscht zu haben, weil diese Realität, die ich in dem Film geschaffen habe, ist eine viel authentischere Realität." 

Autorin räumt ein, Bekannte als Protagonist*innen eingesetzt zu haben

Elke Margarete Lehrenkrauss räumte unter anderem ein, dass sie Darsteller*innen als Protagonist*innen eingesetzt hat, darunter auch Bekannte. Die Prostituierte "Rita" im Film "Lovemobil" ist keine Prostituierte. Laut Lehrenkrauss soll "Rita" Geschichten von anderen Prostituierten nachgespielt haben. Auch "Milena" arbeitet nicht wie im Film dargestellt als Prostituierte in einem Wohnmobil an der B188/ B4 bei Gifhorn, sondern war nur für die Dreharbeiten in Niedersachsen. Bei einem der gezeigten "Freier" soll es sich um einen Bekannten der Autorin handeln.

Redaktion war zu keinem Zeitpunkt über Inszenierungen informiert

Der Film "Lovemobil" wurde von der NDR Dokumentarfilmredaktion redaktionell begleitet und abgenommen. Grundlagen waren ein Exposé und eine Kalkulation über einen Dokumentarfilm. Die Redaktion war während der mehrjährigen Produktionszeit zu keinem Zeitpunkt über die Inszenierungen informiert worden. Die NDR Dokumentarfilmredaktion weist den Vorwurf von Elke Margarete Lehrenkrauss zurück, keine Nachfragen zur Authentizität gestellt zu haben. Der NDR steht mit der Aufklärung des Vorfalls noch am Anfang.

Weitere Informationen
Spielsteine mit den Fragewörtern liegen auf einer Tastatur. © fotolia.com Foto: fotogestoeber

Stellungnahme der NDR Dokumentarfilmredaktion zu "Lovemobil"

Der NDR distanziert sich von dem Film "Lovemobil". Was wirft die Redaktion der Autorin vor? Welche Kontrollen gab es? mehr

Programmdirektor Beckmann: "NDR wird transparent und unabhängig berichten"

Frank Beckmann, Programmdirektion Fernsehen: "Der Film "Lovemobil" entspricht nicht den Standards, die der NDR an dokumentarisches Erzählen anlegt. Er gaukelt dem Publikum eine Authentizität vor, die er nicht hat. Journalist*innen des NDR haben aufgedeckt, dass weite Teile des Films frei inszeniert wurden. Der NDR wird den Sachverhalt in seinen Programmen transparent machen und unabhängig berichten. Wir müssen neben der vollständigen Aufklärung noch bessere Wege finden, wie wir uns vor solchen Irreführungen schützen können".

NDR Berichte zum Thema

 

Im Dokumentarfilm müssen Fiktion und Wirklichkeit getrennt sein

Das Genre Dokumentarfilm ist der Realität und Wahrheit verpflichtet und genießt deshalb beim Publikum ein besonders hohes Ansehen, da es wegen seiner meist rein beobachtenden, auf Begleitkommentare verzichtenden Berichterstattung als besonders authentisch und wirklichkeitsnah gilt. Der NDR ist seit Jahrzehnten Förderer des Dokumentarfilms, aber auch des sogenannten Dokudramas, einer Verbindung aus dokumentarischen und szenischen Elementen. Entscheidend dabei ist, dass Fiktion und Wirklichkeit sauber getrennt werden.

Der NDR wird den Fall im eigenen Programm (Hörfunk und Fernsehen) transparent machen und die Berichterstattung hier dokumentieren.

Der Film "Lovemobil" lief coronabedingt nur kurz im Kino. Das NDR Fernsehen zeigte "Lovemobil" am 8. Dezember 2020 um 0:30 Uhr und in der Mediathek (aus Jugendschutzgründen erst ab 22 Uhr). Der Film "Lovemobil" wurde vorerst aus der ARD Mediathek genommen und für Wiederholungen gesperrt.

Die Autorin behauptet, sie habe den NDR gebeten, den Film als künstlerisch zu kennzeichnen, das sei aber nicht geschehen. Es sei alles nur ein Problem der "richtigen Etikettierung". Was sagt die Dokumentarfilmredaktion dazu?

Elke Margarete Lehrenkrauss ist seit Vertragsabschluss 2015 bekannt, dass sie einen Dokumentarfilm für den Dokumentarfilm-Sendeplatz im NDR Fernsehen produziert und nicht für einen Sendeplatz der Fiktion. Nach Fertigstellung und Abnahme des Films hat Frau Lehrenkrauss am 15. Januar 2020 den Entwurf für einen Pressetext geschickt. Darin schreibt sie: "Weit weg vom Stil einer journalistischen Dokumentation, grenzt sich "Lovemobil" durch seine atmosphärische Bildgestaltung und filmische Herangehensweise als künstlerische dokumentarische Form klar ab."

Aus diesen Hinweisen auf die filmische Gestaltung lässt sich nicht herauslesen, dass Protagonisten erfunden oder ersetzt oder Szenen nachgespielt wurden. Da ein hoher gestalterischer Anspruch bei der Bildgestaltung bei großen Dokumentarfilmen eigentlich selbstverständlich ist, wurde der Satz bei der Überarbeitung und Straffung des Pressetextes gestrichen. Frau Lehrenkrauss akzeptierte den redigierten Pressetext.  Sie hat nie auf eine Kenntlichmachung oder "Deklarierung" des Films durch den NDR als "nicht dokumentarisch" oder fiktional hingewiesen. Auch ein künstlerischer Dokumentarfilm bleibt ein Dokumentarfilm, der der Realität verpflichtet ist.

 "Lovemobil" ist auf zahlreichen Dokumentarfilm-Festivals vor fachkundigem Publikum gelaufen und von vielen Juror*innen begutachtet worden. In keinem uns bekannten Interview, das Frau Lehrenkrauss im Rahmen dieser Festivals oder Preisvergaben gegeben hat, hat sie darauf hingewiesen, dass sie die Wirklichkeit "nachempfunden" und inszeniert hat. Sie hat somit stets den Eindruck auch vor Festivalpublikum vermittelt, der Filme sei authentisch und echt.  Soweit uns bekannt ist, hat bis zu den Recherchen von STRG_F niemand Widersprüche oder Fehler gesehen, die den Film infrage stellen.

Hier haben wir die wichtigsten Fragen und Antworten zur Sache zusammengestellt. Die Auskünfte spiegeln den aktuellen Stand wider. Sollten sich neue Erkenntnisse ergeben, werden die FAQ entsprechend angepasst.

Im Film geht es vor allem um zwei Prostituierte in ihren Wohnmobilen. Sind die echt?

Auf Nachfrage des NDR räumte Elke Margarete Lehrenkrauss ein, dass die beiden Hauptprotagonistinnen nicht echt sind. Keine von beiden arbeitete als Sexarbeiterin auf den Landstraßen von Niedersachsen. Beide Protagonistinnen wurden als Darstellerinnen eingesetzt.

Zum Hintergrund der Zusammenarbeit zwischen der NDR Dokumentarfilmredaktion und Elke Margarete Lehrenkrauss: