Stand: 22.03.2021 15:00 Uhr

Stellungnahme der NDR Dokumentarfilmredaktion zu "Lovemobil"

Spielsteine mit den Fragewörtern liegen auf einer Tastatur. © fotolia.com Foto: fotogestoeber
NDR Dokumentarfilmredaktion ordnet mit dieser Stellungnahme den Vorgang aus ihrer Sicht ein.

Der mit dem Dokumentarfilmpreis 2020 ausgezeichnete Film "Lovemobil" enthält über weite Strecken nicht authentische Szenen, wie die NDR Redaktion von STRG_F recherchiert hat. Der NDR hat sich von dem Film distanziert. Hier nimmt die NDR Dokumentarfilmredaktion Stellung zum Stand der Dinge.

Was wirft die NDR Dokumentarfilmredaktion der Autorin vor?

Wir fühlen uns von der Autorin Elke Margarete Lehrenkrauss getäuscht - und sind von ihr auch enttäuscht nach Jahren der vertrauensvollen Zusammenarbeit, in denen wir das Projekt immer unterstützt haben. Verabredet war ein Dokumentarfilm, kein Hybriddokumentarfilm oder Spielfilm. Authentizität ist essenziell für das Genre des Dokumentarfilms.

Wie Elke Margarete Lehrenkrauss nun eingeräumt hat, zeigt ihr Dokumentarfilm "Lovemobil" jedoch über weite Strecken nachgestellte Szenen. Zentrale Protagonist*innen des Films sind nicht die, die sie vorgeben zu sein. Die Redaktion hatte von diesen Manipulationen keine Kenntnis. Das Verhältnis von Redaktion und Autor*Innen beruht auch auf gegenseitigem Vertrauen. Dieses Vertrauen wurde missbraucht. Zu keiner Zeit hat die Autorin die Redaktion auf die Inszenierungen hingewiesen.

Die beiden Frauen, die angeblich im "Lovemobil" nahe Gifhorn als Prostituierte arbeiten, sollen stattdessen zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in Berlin gelebt haben. Angebliche "Freier" sind in Wahrheit mitspielende Bekannte. Auch Szenen rund um einen angeblichen Barbesitzer sind inszeniert.

Wie erfolgt in der NDR Dokumentarfilmredaktion die Kontrolle und Abnahme der Filme?

Im NDR gibt es verschiedene Regeln und Mechanismen, die Täuschungen verhindern sollen. Dazu gehören unter anderem ein Vier-Augen-Prinzip von Produktion und Redaktion, sorgfältige Abnahmen, Plausibilitäts- und Faktenchecks, stichprobenartige Detailprüfungen von Produktionen. Alle Filme werden im NDR redaktionell - und manchmal auch juristisch - abgenommen. Dabei achtet die Redaktion auf die Dramaturgie der Filme, aber auch auf Faktentreue und Plausibilität des Gezeigten oder Gesagten. Wenn etwas unklar ist, wird nachgefragt.

Die Redaktion ist beim Dreh von Dokumentarfilmen nicht dabei. Das machen die Autor*innen eigenständig. Deshalb ist gegenseitiges Vertrauen besonders wichtig. Die Redaktion muss sich darauf verlassen können, dass die Autor*innen das vereinbarte Produkt abliefern und dabei journalistische Standards beachten. Um welches Thema und welches Genre es sich genau handeln soll, wird vorher in einem Treatment beschrieben und in einem Vertrag festgehalten. Wenn berechtigte Zweifel bestehen, müssen Belege vorgelegt werden. Nach unserer Überzeugung und unseren Erfahrungen funktionieren diese Regeln und Mechanismen grundsätzlich sehr gut.

Trotz klarer Vereinbarungen und sorgfältiger Prüfungen ist die Redaktion aber nicht vollständig vor vorsätzlichen Täuschungen geschützt. Das Verhalten der Autorin in diesem Fall führt dazu, dass Redaktionen in Zukunft wohl misstrauischer mit Autor*innen umgehen müssen, noch mehr Kontrolle einführen müssen.

Das ist schade, weil gemeinsames Arbeiten gerade an so gesellschaftskritischen Stoffen auf Vertrauen beruht und nur so gute, mutige Filme entstehen. Aber es geht um die Glaubwürdigkeit unserer journalistischen Produkte. Und dafür müssen wir gerade stehen. Wir prüfen daher, ob wir unsere Kontrollmechanismen nun noch mehr verschärfen müssen.

Der Film ist derzeit bis auf Weiteres aus der Mediathek genommen und für Wiederholungen gesperrt.

Wie bewertet die Dokumentarfilmredaktion die Zusammenarbeit mit der Autorin?

Wir haben zum ersten Mal mit Elke Margarete Lehrenkrauss zusammengearbeitet. Vor Beginn der Zusammenarbeit haben wir uns über sie informiert und uns ihre Seriosität und Professionalität bestätigen lassen. Wir hatten während der gesamten Zusammenarbeit - immerhin mehr als fünf Jahre - keinen Anlass, an der Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung zu zweifeln.

"Lovemobil" ist auf zahlreichen Dokumentarfilm-Festivals vor fachkundigem Publikum gelaufen und von vielen Juror*innen begutachtet worden. In keinem uns bekannten Interview rund um diese Festivals oder Preisvergabe hat Frau Lehrenkrauss darauf hingewiesen, dass sie die Wirklichkeit "nachempfunden" und inszeniert hat. Sie hat somit stets den Eindruck auch vor Festivalpublikum vermittelt, der Filme sei authentisch und echt.  Soweit uns bekannt ist, hat bis zu unseren Recherchen niemand Widersprüche oder Fehler gesehen, die den Film infrage stellen.

Die Autorin behauptet, sie habe die Redaktion im Zusammenhang mit dem Pressetext zum Film auf die "künstlerische dokumentarische Form" ihres Films und die "Interpretation der Wirklichkeit" hingewiesen, die Redaktion habe diesen Hinweis aber ignoriert. Was sagt die Dokumentarfilmredaktion dazu?

Es gab nie die Aufforderung von Elke Margarete Lehrenkrauss, den Film nicht als Dokumentarfilm zu kennzeichnen. Ihr ist seit Vertragsabschluss 2014 bekannt, dass sie einen Dokumentarfilm für den Dokumentarfilm-Sendeplatz im NDR Fernsehen produziert und nicht für einen Sendeplatz der Fiktion.

Nach Fertigstellung und Abnahme des Films hat Frau Lehrenkrauss am 15. Januar 2020 den Entwurf für einen Pressetext geschickt. Darin schreibt sie: "Weit weg vom Stil einer journalistischen Dokumentation, grenzt sich LOVEMOBIL durch seine atmosphärische Bildgestaltung und filmische Herangehensweise als künstlerische dokumentarische Form klar ab.". Aus diesen Hinweisen auf die filmische Gestaltung lässt nicht herauslesen, dass Protagonisten erfunden oder ersetzt oder Szenen nachgespielt wurden. Da ein hoher gestalterischer Anspruch in Form von Kameraführung oder Lichtkonzept bei großen Dokumentarfilmen eigentlich selbstverständlich ist, wurde der Satz bei der Überarbeitung und Straffung des Pressetextes gestrichen.

Frau Lehrenkrauss akzeptierte den redigierten Pressetext und bat per Mail lediglich um Änderung von ein paar Details zu den Protagonistinnen. Sie hat nie auf eine Kenntlichmachung oder "Deklarierung" des Films durch den NDR als "nicht dokumentarisch” oder fiktional hingewiesen oder bestanden. Es gab im Entwurf des Pressetextes auch keinen Hinweis auf eine "Interpretation der Wirklichkeit". Auch ein künstlerischer Dokumentarfilm bleibt ein Dokumentarfilm, der der Realität verpflichtet ist.

Im Schriftwechsel mit der Redaktion, in den Abnahmen und in mehreren Interviews hat die Autorin nie dem Eindruck widersprochen, alles im Film Gezeigte sei authentisch und das Ergebnis hartnäckiger Recherchen und Beobachtungen gewesen. Sie hat ihre Inszenierungen auch bei der Entgegennahme des Deutschen Dokumentarfilm-Preises nicht offengelegt

Wie wurde die Dokumentarfilmredaktion auf die Unstimmigkeiten in "Lovemobil" aufmerksam?

Die NDR Redaktion STRG_F hat Informationen aus dem Umfeld der Produktion erhalten, die auf Unstimmigkeiten im Film schließen lassen, und entsprechende Recherchen gestartet. Zurzeit werden alle Vorwürfe gründlich und umfassend aufgeklärt. Dazu gehören auch Befragungen der Autorin und der Redaktion. Wir überprüfen die jahrelange Korrespondenz mit der Autorin nach Hinweisen, die wir übersehen haben könnten.

Wie arbeitet die NDR Dokumentarfilmredaktion den Fall jetzt auf?

Zum einen recherchieren wir weiter, welche Teile des Films wie inszeniert waren. Bislang haben wir darüber noch keinen abschließenden Überblick, weil die Aussagen der Autorin zum Teil widersprüchlich sind und wir (noch) keinen Kontakt zu allen Protagonist*innen des Films haben. Da sich die Autorin und ein paar mit der Autorin bekannte Dokumentarfilmer auf eine Definition von Dokumentarfilm beziehen, die als "künstlerische" Form auch Inszenierungen beinhalten dürfe, werden wir mit der Dokumentarfilmszene in eine Debatte über die Definition dieses Genres einsteigen.

Unserer Auffassung nach ist der Dokumentarfilm in seiner Wahrhaftigkeit ein besonders wertvolles Genre, dessen Weiterentwicklung sich der NDR in der auf Klaus Wildenhahn, Eberhard Fechner und Heinrich Breloer aufbauenden "Hamburger Schule" besonders verbunden fühlt. Die Dokmentarfilmredaktion des NDR kümmert sich in besonderer Weise um die Förderung des Nachwuchses in diesem Genre. Wir brauchen Offenheit und Transparenz um dieses Genre pflegen zu können. Daher ist uns eine Debatte über Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarfilms besonders wichtig.

Weitere Informationen
Haupteingang zum Gelände des NDR an der Rothenbaumchaussee. © dpa/picture-alliance Foto: Markus Scholz

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