Anklage Mord: Schuldig im Sinne des Vorurteils?
Unter Mordverdacht sitzt eine Mutter in Hamburg mehr als sieben Monate in Haft - unschuldig und trotz eines Alibis. Auch das Sorgerecht für ihren nur wenige Monate alten Sohn wird ihr entzogen, ohne Urteil. Ihre Anwälte sprechen von einem Justizskandal und vermuten auch Rassismus bei den Ermittlern.
Niemals hätte Yulady Lasso sich das vorstellen können. Doch von einem Tag auf den anderen findet sie sich im Gefängnis wieder. Der Vorwurf wiegt schwer: sie soll, im neunten Monat schwanger, einen Mann, Benito Longo, mit den bloßen Händen gefesselt und ermordet haben. Im Polizeibericht ist von "Fesselmarken an den Knöcheln" und "Blut am rechten Ohr" des Ermordeten die Rede, was auf einen Schädelbasisbruch hindeutet.
Bei der Obduktion werden weitere schwere Verletzungen am Kopf und Brustkorb sowie "multiple Rippenfrakturen" und "Zeichen des Erstickens bei Brustkorbkompression mit Gewalt gegen die Hals- und die Mundregion" festgestellt. Die Rechtsmediziner gehen davon aus, dass Longo erstickt ist.
Die Spurenlage scheint zunächst eindeutig. Yulady Lassos DNA wird am Tatort und an dem Toten gefunden. Allerdings stellt sich bald heraus, dass sie offenbar ein Alibi hat. Am Tattag habe sie in einem Hotel geputzt. Das sagt sie auch schon zu Beginn der Ermittlungen, und wenige Wochen nach der Festnahme wird ihr Alibi auch von einer Zeugin bei der Polizei bestätigt. Doch lügen vielleicht beide?
Was verbindet die Verdächtige mit dem Mordopfer?
Lasso lernt das spätere Opfer Longo im Mai 2022 über eine Stellenanzeige bei Facebook kennen. Sie ist einige Monate zuvor aus einem Armenviertel in Kolumbien nach Hamburg gekommen, um für sich und ihre beiden Töchter Geld zu verdienen. "Ich wollte einfach das Lebensniveau für uns in Kolumbien verbessern, fließend Wasser für unser Haus, die Chancen für meine Töchter verbessern", sagt die 38-Jährige.
Benito Longo sucht eigentlich eine Küchenhilfe für ein Restaurant, in dem der 69-jährige ehemalige Gastronom öfter aushilft. Lasso ist gelernte Tourismusfachkraft, hat beim ersten Zusammentreffen jedoch noch keine Papiere. Longo schlägt ihr deshalb vor, zunächst seine Hemden zu bügeln. Das tut Yulady, das Treffen findet fünf Tage bevor Longo ermordet wird statt. Ist dies die Quelle von Lassos DNA-Spuren am Tatort?
Warum wurde Longo so brutal zugerichtet?
Wer hat den beliebten Gastronomen derart zugerichtet? "Ich kann nicht nachvollziehen, warum man ihn dermaßen gequält hat. Was wollte man von ihm?", fragt sich Manuel Longo, der ein sehr enges Verhältnis zu seinem älteren Bruder hatte. Gemeinsam kamen sie Ende der 60er Jahre aus Galizien nach Hamburg und betrieben mehrere Tapasbars. "Die Gastronomie war sein Leben. Er war sehr beliebt bei den Gästen. Kontakte zum Milieu gab es nicht. Niemals!", beteuert der Bruder. Denn tatsächlich spricht die Art und Weise, wie Benito Longo ermordet wurde, eher für das Organisierte Verbrechen. Auch habe Longo vor der Tat Freunden gegenüber Angst geäußert.
Motiv Habgier?
Aber für die Ermittler bleibt Yulady Lasso die Hauptverdächtige - sie erheben Anklage. Da man kein sonstiges Motiv erkennen kann, vermutet die Staatsanwaltschaft Hamburg, dass "Yulady Lasso - nicht vorbestraft - einen Menschen aus Habgier getötet" hat, so steht es in der Anklageschrift. Der Haken: Es wurde nichts gestohlen, wie selbst die Angehörigen des Mordopfers und die Nebenklägeranwältin Sabine Marx betonen. "Ich habe das alles gesehen. Ja, es war durchgewühlt. Es war ein gewisses Chaos, aber es wurde ein Bündel Dollarscheine, mitten auf dem Tisch, gefunden. Handys und ein Laptop lagen herum. Ein portabler Safe stand auf dem Balkon. Alles war noch da", so die Anwältin der Tochter des Toten.
Auch glaubt Manuel Longo nicht, dass eine im neunten Monat schwangere Frau seinen kräftigen Bruder mit bloßen Händen umgebracht haben könnte. Und es bleibt Lassos Alibi, das bereits sechs Wochen nach der Festnahme bei der Polizei protokolliert und bestätigt worden war.
Sorgerechtsentzug ohne Urteil
Doch sie bleibt bis zum Gerichtsverfahren in Haft, getrennt von ihrem inzwischen sechs Monate alten Sohn Mathias. Er wird nun zwischen Pflegemutter und Kinderhaus herumgereicht. Dass dies, vor allem im ersten Lebensjahr, einem Kind nicht guttut, ist bekannt und widerspricht auch jeglicher Bindungstheorie.
Und tatsächlich entwickelt der kleine Mathias massive Störungen, schlägt gegen die Stäbe seines Kinderbettchens, schläft schlecht und isst kaum noch. Lassos Anwältinnen versuchen alles, um das Kind zu seiner Mutter in eine der leerstehenden Mutter-Kind-Zellen der JVA Billwerder zu bringen. Doch Lasso hat inzwischen für Mathias kein "Aufenthaltsbestimmungsrecht" mehr, weil das Jugendamt ihr das Sorgerecht entzogen hat - offenbar davon ausgehend, dass sie für längere Zeit in Haft bleiben würde. "Das schwang immer mit, und es wurde auch teilweise klar gesagt, dass, wenn die Mutter lebenslang in Haft bleibt, dann müsste jetzt schon eine Entwöhnung von der Mutter anfangen. Die Unschuldsvermutung war ausgehebelt", kritisiert Familienanwältin Ilka Quirling.
DNA-Gutachten entlastet Lasso
In der Zwischenzeit hat Lassos Anwältin im Strafverfahren, Fenna Busmann, ein externes DNA-Gutachten in Auftrag gegeben. Der Leiter der Forensischen Molekulargenetik der Uniklinik Köln, Cornelius Courts, kommt zu dem Ergebnis: Die DNA an Benito Longos Kleidungsstücken lässt sich durch Yulady Lassos "Haushaltstätigkeiten plausibel erklären".
DNA-Moleküle seien "physiko-chemisch sehr stabil, sodass bei günstigen Lagerungsbedingungen ein Abbau oder Zerfall von DNA-Molekülen innerhalb von fünf Tagen praktisch nicht stattfindet". Ihre DNA könne also sehr wohl durch den Aufenthalt fünf Tage zuvor an den Tatort gelangt sein. Doch auch das Gutachten führt zu keiner Wende.
Plötzliche Wende im Prozess
Bei der mündlichen Verhandlung dann die große Überraschung: die eigentlich längst vernommene Alibi-Zeugin wird vom Richter plötzlich zum "Gamechanger" erklärt. Yulady Lassos Alibi sei "wasserdicht", erklärt der Richter weiter, und: "sie war es nicht." Er spricht sie frei, nach 217 Tagen unschuldig in Haft.
"In der Hauptverhandlung hat sich herausgestellt, dass die Angaben zum Alibi der Angeklagten - sie war zum Zeitpunkt der Tat in einem Hotel zum Arbeiten - belastbar sind, und deshalb steht fest, dass sie nicht die Täterin hier ist. Dementsprechend ist sie von dem Vorwurf freigesprochen worden", erklärt der Gerichtssprecher Kai Wantzen den Freispruch. Tatsächlich habe die Alibi-Zeugin "die Wende gebracht".
Dabei hatte sich nichts geändert. Denn schon sechs Wochen nach der Inhaftierung war ja die Alibi-Zeugin vernommen worden - viele Monate vor der Hauptverhandlung. "Diese Zeugenaussage hätte Folgen haben müssen", kritisiert Verteidigerin Busmann. Und das müsse man der Justiz vorwerfen. "Man hätte ihr und ihrem Sohn viele Monate Untersuchungshaft ersparen können und müssen", so Busmann, und spricht von einem Justizskandal.
Welche Rolle spielte Rassismus?
Sie vermutet, dass auch Yuladys Hautfarbe eine Rolle gespielt habe. "Ich vermute, dass es einen Unwillen gab, sich intensiv damit zu befassen, auch weil man vielleicht dachte, dass man es nicht ganz so genau nehmen muss. Das Thema Rassismus - das ist auf jeden Fall ein Thema, was unsere Mandanten getroffen hat", sagt die Anwältin.
Und Manuel Longo? Wie soll er weiterleben nach dem unaufgeklärten Mord an seinem Bruder? "Solange der Täter noch frei rumläuft, werde ich nicht abschließen können. Vor allem aber will ich wissen, warum mein Bruder so qualvoll sterben musste. Ich brauche Klarheit", sagt Longo. Ruhe gibt es für ihn nicht, bis der Mörder gefasst ist.