1 | 20 Am 1. Mai 1946 gründete der NWDR seinen Chor unter Leitung von Max Thurn: "Wir ließen einen Ruf durch den Äther ertönen, und der lautete: Berufssänger aller Stimmgattungen werden gesucht." Aus über 2.000 Bewerbungen wählte Thurn 55 Sängerinnen und Sänger aus.
2 | 20 Radioaufnahmen, Konzerte in Kirchen oder im hier abgebildeten Rolf-Liebermann-Studio am Hamburger Rothenbaum - die Vielseitigkeit gehörte für den Chordirektor Max Thurn zu den besonderen Herausforderungen eines professionellen Ensembles: "Es geht von der Unterhaltungsmusik über die Oper bis zum Oratorium."
3 | 20 Das Probenfoto vom Beginn der Fünfzigerjahre vermittelt die Atmosphäre der Anfangszeit: Herren stets im Anzug, Damen adrett im Rock. - Nach knapp zwanzig erfolgreichen Jahren ging der erste Chordirektor Max Thurn 1965 in den Ruhestand. Sein Abschiedskonzert umfasste ein A-cappella-Programm mit einer Bandbreite von Josquin bis zum "Stabat Mater" von Krzysztof Penderecki.
4 | 20 Thurns Nachfolger wurde Helmut Franz, zuvor Kapellmeister und Chordirektor am Landestheater Darmstadt. Er rückte die Neue Musik stärker in den Fokus und betonte: "Der Rundfunkchor ist eine Gruppe von Spezialisten ... Der Chor hat natürlich durch seine Elitefunktion die Aufgabe, vor allem moderne Werke zu singen, die andere Chöre aus zeitlichen Gründen oder aus Fähigkeitsgründen nicht pflegen können."
5 | 20 So trat der NDR Chor auch im NDR Fernsehen auf. Das stellte in der Reihe "Musik Neu TV" zeitgenössische Musik vor - darunter 1971 den fünfteiligen Zyklus von Vokalstücken "Cinque frammenti all'Italia" von Sylvano Bussotti. Hier singt der Chor unter der Leitung von Helmut Franz daraus das Stück "Per ventiquattro voci".
6 | 20 Während der 1970er-Jahre war der NDR Chor mit seinen Ur- und Erstaufführungen bei vielen Festivals im Ausland zu Gast. - Für seinen Abschied als Chordirektor 1978 kehrte Helmut Franz jedoch ins barocke Repertoire zurück und dirigierte die von ihm sehr geliebte h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach.
7 | 20 Nach der Anfangszeit mit zwei langjährigen Leitern folgte eine wechselhafte Phase beim NDR Chor. Alexander Šumski lenkte die Geschicke nur kurz: Der rumänisch-deutsche Pianist, Dirigent und Komponist war Chordirektor von 1978 bis 1980.
8 | 20 Sternstunden erlebte der NDR Chor in jener Zeit aber auch dank einiger charismatischen Gastdirigenten und spannender Uraufführungen. Beispielsweise leitete Dirigent Francis Travis 1980 die Uraufführung des Oratoriums "Mysterion" von Iannis Christou - gemeinsam mit dem NDR Sinfonieorchester - in der Kirche St. Jacobi in Hamburg.
10 | 20 Über all diese Jahre prägte vor allem der warme, romantische Klang die Qualitäten des NDR Chors (hier in der Laeiszhalle). Diese Richtung schlug auch der langjährige Hamburger Kirchenmusikdirektor Günter Jena ein, als er mit dem Chor ab Herbst 1981 an einer Aufnahme der Chorwerke von Brahms arbeitete. Die Brahms-Edition bescherte dem Chor ein begeistertes Echo und einen "Orphée d'Or", den begehrten Schallplattenpreis.
11 | 20 Horst Neumann (1934-2013), der in der DDR unter anderem die Radio-Philharmonie Leipzig aufgebaut hatte, war ab 1988 ständiger Gastdirigent und von 1991 bis 1994 Chordirektor.
12 | 20 Ihn löste Robin Gritton ab, der nach zahlreichen Gastdirigaten 1995 als Chordirektor verpflichtet wurde. Gemeinsam mit Michael Gläser bildete der Brite während der 90er-Jahre eine Art Doppelspitze.
13 | 20 Mit ihren gedeckten Farben und dem großen Atem gehört Michael Gläsers Aufnahme des Abendlieds von Rheinberger zu den chorischen Schätzen im Schallarchiv des NDR.
14 | 20 Mit Hans-Christoph Rademann erlebte der NDR Chor kurz vor der Jahrtausendwende einen Stilwandel: Der damals 34-jährige Dirigent aus Dresden brachte neue Klangvorstellungen mit nach Hamburg. Eines seiner wichtigsten Anliegen war die Transparenz: "Ich möchte den Klang verschlanken, ohne dass die Größe des Klangs verloren geht."
15 | 20 Der Chor wurde flexibler, der Gesamtklang durchlässiger und das Erscheinungsbild nahbarer. Zugleich öffnete sich der NDR Chor für die Ideen der historischen Aufführungspraxis. Die Probenarbeit unter Rademann geschah, wie die Fotos von damals zeigen, in ebenso intensiver wie lockerer Atmosphäre.
16 | 20 Mit Interpretationen der Werke von Max Reger und Anton Bruckner, auch auf CD dokumentiert, erneuerte der NDR Chor (hier im Rolf-Liebermann-Studio 2002) seinen Ruf als Spitzenensemble. Rademann modellierte aus den Einzelstimmen einen homogenen Gesamtklang, mit dem er die Harmonien ausleuchtete und große Bögen wölbte. - Rademann verabschiedete sich 2004.
17 | 20 Nach vier Jahren ohne Chefdirigent übernahm Philipp Ahmann 2008 bis 2018 das Ensemble und gab ihm ein neues Profil - als logische Konsequenz der kleineren Besetzung. Denn die Zahl der festen Chorsänger hatte sich im Laufe der Zeit von 55 auf die Hälfte reduziert. "Ich habe versucht", sagt Ahmann, "das Repertoire auf den Kammerchor auszurichten, den ich vorfand."
18 | 20 Philipp Ahmann begründete eine eigene Abo-Reihe des NDR Chors mit Schwerpunkt auf der A-cappella-Literatur und einem breit gefächerten Repertoire von der Renaissance über die Romantik bis zur Gegenwart.
Damit hat er den Chor wieder in die Erfolgsspur zurückgeführt und das künstlerische Profil geschärft.
19 | 20 Seit 2012 lädt der NDR Chor sein Publikum einmal im Jahr zu seinen Mitsing-Projekten mit dem Titel "Singing": Dort musizieren die Berufssänger gemeinsam mit Hunderten Laiensängern. - Aus dem Ehrfucht gebietenden Klangkörper der Anfangszeit ist nach sieben Jahrzehnten ein flexibler und nahbarer Kammerchor geworden.
20 | 20 Der niederländische Chorleiter, Dirigent und Organist Klaas Stok übernahm in der Saison 2018/2019 die künstlerische Leitung des NDR Chors. Stilistische Vielfalt und ein Repertoire von der Renaissance bis zur zeitgenössischen Musik zeichnen seine Arbeit aus. Aber auch ein Faible für Johann Sebastian Bach: "Bach", sagt Klaas Stok, "ist für mich das A und O der Musik."