Im Mittelpunkt: Gustav Mahler
Seit seiner Gründung verbindet das NDR Elbphilharmonie Orchester mit den Kompositionen Gustav Mahlers eine ganz besondere Beziehung, wie die Aufnahmen aus der langjährigen Orchestergeschichte zeigen.
Im April 2018 feierte Alan Gilbert eine fulminante Rückkehr zum NDR Elbphilharmonie Orchester, damals noch als designierter Chefdirigent. Dass ausgerechnet eine Sinfonie von Gustav Mahler - seine gigantische Dritte - beim gemeinsamen Neustart erklang, war kein Zufall, sondern Ausdruck einer engen Verbindung, und zwar im doppelten Sinne. Seit Alan Gilbert schon im Alter von neun Jahren Mahlers Musik für sich entdeckte, hat sie ihn nicht mehr losgelassen. So standen in der Saison 22/23 Mahlers Zweite, die "Auferstehungssinfonie", sowie die verkannte Sinfonie Nr. 7 auf dem Programm. 2024 dirigierte Gilbert beim Eröffnungskonzert des SHMF 2024 Mahlers 5. Sinfonie.
Mahler in 75 Jahren NDR Elbphilharmonie Orchester
Aber auch in der mittlerweile 75-jährigen Geschichte des NDR Elbphilharmonie Orchesters markierten die Kompositionen Gustav Mahlers immer wieder glanzvolle Momente und erinnerungswürdige Konzerterlebnisse, wie der Blick in die Chronik beweist.
1945: Mahlers Erste mit Hans Schmidt-Isserstedt
Beim Orchester reicht die Beziehung zu Mahler sogar bis in dessen Geburtsstunde zurück: Schon kurz nach seiner Gründung im Juni 1945 stemmte das damalige "Sinfonieorchester von Radio Hamburg" eine Rundfunkaufführung von Mahlers erster Sinfonie, mit Aushilfen von den Hamburger Philharmonikern. Diese Live-Übertragung unter Leitung von Hans Schmidt-Isserstedt war der Auftakt zu einer langen Reihe denkwürdiger Mahler-Interpretationen, die die Geschichte und das Profil des Orchesters entscheidend mitgeprägt haben.
1955: Kindertotenlieder mit Dietrich Fischer-Dieskau
Zu den Meilensteinen gehört etwa ein Konzert vom Juni 1955. Zehn Jahre nach der Gründung des Orchesters dirigierte der erste und langjährige Chef Hans Schmidt-Isserstedt in der Hamburger Laeiszhalle - die damals noch Musikhalle hieß - eine Aufführung von Mahlers Zyklus mit dem Titel "Kindertotenlieder". Solist des Abends war der gerade mal dreißigjährige Bariton Dietrich Fischer-Dieskau, eine der herausragenden Sängerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Die Konzertaufnahme im Archiv des NDR vermittelt einen Eindruck von der sensiblen Sprachgestaltung und dem anrührend warmen Timbre des legendären Baritons, aber auch von der kammermusikalischen Sorgfalt, mit der das damalige "Sinfonieorchester des Nordwestdeutschen Rundfunks" den Sänger begleitet und die vokalen mit den instrumentalen Linien verwebt.
1970er-Jahre: Mahler im Zentrum unter Moshe Atzmon
1971, nach über 25 Jahren an der Spitze des Orchesters, trat Hans Schmidt-Isserstedt aus Altersgründen von seinem Amt zurück. Unter seinem Nachfolger Moshe Atzmon, damals gerade Ende 30, rückte das Schaffen von Gustav Mahler noch stärker ins Zentrum. Atzmon - ein gebürtiger Ungar, dessen Familie 1944 nach Israel emigriert war - gehört zu denjenigen Dirigenten, die entscheidend zur Wiederentdeckung des Komponisten beigetragen haben.
In einer Zeit, als seine Sinfonien noch lange nicht so selbstverständlich zum Repertoire gehörten wie heute, hat er Mahlers Schaffen ins Zentrum gerückt. "Gustav Mahler beherrscht die musikalische Sprache auf einem so hohen Niveau, dass er jede menschliche Empfindung - Schmerz, Liebe, Glück, alles - ausdrücken kann.", sagte Atzmon in einem Interview. "Er tut das in einer Sprache, die sehr direkt zu unserer Zeit spricht."
1980er-Jahre: Mahler-Produktionen von historischer Bedeutung
Das Schaffen von Gustav Mahler erlebte in Deutschland eine Renaissance. Und das NDR Sinfonieorchester - wie es damals hieß - war ein wichtiger Impulsgeber. Auch während der kurzen Amtszeit von Klaus Tennstedt. Der hypersensible Musiker, international als Hochspannungs-Maestro ("High Voltage Maestro") verehrt, galt als einer der herausragenden Mahler-Interpreten des 20. Jahrhunderts und leitete das Orchester in einigen Aufführungen von brennender Intensität. Packend etwa der Mitschnitt eines Konzerts aus dem Kieler Schloss vom 20. Mai 1980 mit der Fünften Sinfonie - und einer bisher unveröffentlichten Film-Aufnahme der "Kindertotenlieder" mit der Mezzosopranistin und großartigen Liedinterpretin Brigitte Fassbaender.
Auf tragische Weise unvergessen bleibt eine Aufführung von Mahler Erster im März 1981 im Concertgebouw Amsterdam unter Leitung von Kyrill Kondrashin: Der russische Dirigent stirbt unerwartet in der Nacht nach dem Konzert. 25 Jahre später wurde die Aufnahme von diesem Abend schließlich in einer NDR-eigenen Edition auf CD veröffentlicht.
1997: Erstaufführung von Mahlers Kantate "Das klagende Lied" mit Kent Nagano
Ein Mahler-Ereignis von historischer Tragweite erlebt das NDR Sinfonieorchester im Jahr 1997: Unter Leitung von Kent Nagano - heute Hamburgs Generalmusikdirektor - spielt der Klangkörper die deutsche Erstaufführung der Urfassung von Mahlers Kantate "Das klagende Lied". Schon hier, in seinem Opus 1, deutet sich ein Hang zu mächtigen Besetzungsgrößen an, die sich auch in den späteren Werken fortsetzt und Interpreten, Publikum und Säle gleichermaßen an ihre Grenzen bringt.
1999: "Sinfonie der Tausend" mit Christoph Eschenbach
Diese Tendenz zu mächtigen Besetzungsgrößen treibt der Komponist mit seiner achten Sinfonie auf die Spitze. Wegen ihrer gewaltigen Massen an Mitwirkenden in Chor und Orchester trägt sie den Beinamen "Sinfonie der Tausend" und wird nur äußerst selten aufgeführt. Christoph Eschenbach hat sie beim damaligen NDR Sinfonieorchester gleich zweimal dirigiert: 1999 in Kiel, während seiner Zeit als Chefdirigent, und 2011 in der AOL Arena in Hamburg. Das Konzert vor knapp 10.000 Besuchern, mit riesigem Orchester, fünf Chören und acht Solisten, gehört zu den Höhepunkten des Mahler-Jubiläums 2010/2011. Die Aufführung stand im Zentrum der Feiern zum 150. Geburtstag und dem 100. Todestag des Komponisten.
2005 - 2008: Gielen dirigiert Mahler
Der große deutsch-argentinische Dirigent Michael Gielen war in den Jahren 2005 bis 2008 mehrfach mit den großen sinfonischen Werken von Gustav Mahler beim heutigen NDR Elbphilharmonie Orchester in der Laeiszhalle zu Gast. Es waren Konzerte, die Maßstäbe setzten - für alle, die seinerzeit dabei waren, Erlebnisse, die im Gedächtnis blieben.
Fortsetzung der Tradition unter Hengelbrock und Gilbert
Die besondere Nähe des Orchesters zum Schaffen von Gustav Mahler - der von 1891 bis 1897 bekanntlich selbst sechs Jahre lang als "Erster Kapellmeister" am damaligen Hamburger Stadttheater gewirkt hatte - fand in der Amtszeit von Thomas Hengelbrock ihre Fortsetzung. 2013 präsentierte der damalige Chefdirigent mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester eine spannende Entdeckung: die Erste Sinfonie von Mahler, in der fünfsätzigen Hamburger Fassung von 1893, erstmals gespielt nach der aktuellen Quellenlage dieser "Urfassung" in der Neuen Kritischen Gesamtausgabe. Auch damit hat das Orchester Interpretationsgeschichte geschrieben - und diese Hamburger Fassung dann natürlich auch als CD veröffentlicht.
Wenn jetzt mit Alan Gilbert ein Chefdirigent am Pult steht, dem die Musik von Gustav Mahler ganz besonders am Herzen liegt, kann er eine Tradition fortschreiben, die seit 75 Jahren besteht - und die er selbst bereits fortgesetzt hat. Schon 2004, als Erster Gastdirigent, hat Gilbert beim NDR Mahler-Akzente gesetzt: mit einer Aufführung der Siebten Sinfonie und dem Klagenden Lied. 2018, bei seiner Rückkehr, hat er an diese Tradition angeknüpft. Und es ist sehr zu hoffen, dass so bald wie möglich wieder Aufführungen in großer Besetzung möglich sind - damit das NDR Elbphilharmonie Orchester seine enge Verbindung zum Schaffen von Gustav Mahler weiter pflegen kann.