Stand: 10.01.2017 11:00 Uhr

Nachgefragt: Gunar Letzbor

Gunar Letzbor im Porträt © Georg Thum Foto: Georg Thum
"Biber war meine erste Liebe", sagt der österreichische Barockgeiger Gunar Letzbor über sich.

Er ist kein Unbekannter in der Reihe NDR Das Alte Werk. Mit dem Konzert "Anonymus ex Vienna" kehrt der Barockviolinist Gunar Letzbor nach Hamburg zurück und widmet sich mit seinem Ensemble Ars Antiqua Austria Musikstücken aus dem 17. Jahrhundert. Im Interview verrät der Österreicher, was die Fundstücke aus dem Wiener Minoritenkloster so besonders macht und was "neue Musik" für ihn bedeutet.

Viele Konzertgänger denken bei Violinmusik des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts sicher zuerst an italienische Komponisten und Geiger wie Corelli, Torelli, Vivaldi. Was unterscheidet die Violinmusik des süddeutsch-österreichischen Raumes von der der Italiener? Was macht die Eigenheit dieses Repertoires, dem Sie sich besonders widmen, aus?

Gunar Letzbor: Die Musik am Wiener Hof verbindet viele der Eigenheiten, die in den unzähligen Kulturkreisen des barocken Österreichs lebendig waren. Bei italienischen Künstlern (Bertali, Viviani), lässt sich unschwer eine Veränderung in ihrem musikalischen Ton bemerken, nachdem sie einige Zeit in Österreich gelebt hatten. Wien fungierte gleichsam als Schmelztiegel, durch den die verschiedenen Kulturen, in einem lebendigen Prozess, Einfluss auf die Weiterentwicklung der musikalischen Hochkultur nehmen konnten.

Kaum hätte H.I.F. Biber zu seinen virtuosen Spielfiguren gefunden, hätte er ähnliches nicht tagtäglich durch das Vorbild der "Zigeunergeiger" in Böhmen und Mähren vor Augen gehabt. Diese Musiker scherten sich wenig um Kompositionsregeln, sie entwickelten ihr Musizieren idiomatisch aus ihrem Instrumentarium und erreichten damit schon wesentlich früher als die hochgebildeten Musiker aus dem Bereich der Hochkultur technische Meisterschaft.

Ausgehend vom italienischen Geiger und kaiserlichen Hofkapellmeister Bertali stößt zuerst Schmelzer, dann Biber zu einer Violintechnik vor, die dem Standard im übrigen Europa haushoch überlegen war.

Der Codex XIV/726 aus dem Archiv des Minoritenklosters in Wien, aus dem Sie die Werke für das Programm aussuchten, enthält neben anonymen Werken auch Abschriften und alternative Fassungen bekannter Werke. Manche Neufassungen sind offenbar noch virtuoser als das Original. Wer, glauben Sie, hat den Codex XIV/726 angelegt und zu welchem Zweck?

Das Ensemble Ars Antiqua Austria im Gruppenporträt.  Foto: Brendon Heinst
Das Ensemble Ars Antiqua Austria und sein Leiter, der Geiger Gunar Letzbor.

Letzbor: Ich glaube, dass ein Geige spielender Pater diese Sammlung initiiert hat. Gerne wurde in den Klöstern damals musiziert, und es ist sogar vorstellbar, dass die Violinmusik zur Ergötzung der Mitbrüder beispielsweise als Tafelmusik erklungen ist.

Jedenfalls war der Schreiber ein hochvirtuoser Musiker, und mit dieser Sammlung verfügte das Kloster über die exklusivsten Schätze des damaligen Violinrepertoires. Für besondere Aufführungen war die Bearbeitung eines Originalvorbildes damals jederzeit möglich. Man scherte sich wenig um Autorenschutz und machte dabei die jeweilige Darbietung zu einem einzigartigen Erlebnis.

Beethoven war der Meinung: "Jede Mahlery, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert". Einige der Werke, die Sie ausgesucht haben wie das "Musicalisch Urwerck" oder "Das Posthorn", leben von der Lust an der musikalischen Schilderung. Auch ihr eigener Stil als Interpret ist geprägt von Bildhaftigkeit. In den "Rosenkranzsonaten" etwa hört man die Hammerschläge der Kreuzigung. Sind Sie ein Freund der musikalischen "Mahlery"?

Letzbor: Es ist bezeichnend, dass gerade ein Deutscher so abschätzig über die "Mahlery" spricht. In Österreich und in den habsburgisch beeinflussten Kulturkreisen waren bildliche Imaginationen in den Musikstücken sehr beliebt. Man erfreute sich in kindlicher Naivität über das Erklingen von Glöckchen, Vögeln, Schlachten, Imitationen von Instrumenten.

Der katholische Glaube bewirkte eine bildliche Denkweise, auch beim Musizieren. Die Bilderflut in süddeutschen oder österreichischen Barockkirchen findet seine Entsprechung in den musikalischen Bildern der Komponisten. Im protestantischen Norddeutschland stand dagegen in der Religionsvermittlung "das Wort" im Mittelpunkt - entsprechend verhielten sich die Musiker: Die Musik wurde "versprachlicht", ein Figurenkodex regelte die Verständlichkeit.

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In einem Interview haben Sie über Ihre und die Arbeit Ihres Ensembles Ars Antiqua Austria einmal gesagt: "Wir machen zu 80 Prozent 'neue Musik'." Eigentlich sind Sie doch Spezialist für den Barock aus Habsburger Landen. Wie war der Satz gemeint?

Letzbor: Wenn wir 300 Jahre alte Noten vor unseren Augen haben, beginnen wir unsere weiteren Aktivitäten mit dem Bewusstsein, bald "neue Musik" zum Erklingen zu bringen. Diese Notenzeichen sind nämlich noch keine Musik. Es sind nur Erinnerungshilfen, die den Musikern vor Hunderten von Jahren als Anleitung zum Musizieren dienten. Symbole, die in der damaligen Zeit lebendige Erinnerungen an musikalische Erlebnisse abrufen konnten, meist wohl bekannt waren und so eigentlich oft auch "alte Musik" hervorbrachten. So wie heute entstand "neue Musik" nur dann, wenn beim Musizieren neue Ideen oder Visionen zum ersten Mal hörbar gemacht wurden, wenn der Interpret das Besondere, das Neue in der vom Komponisten bereitgestellten Musik erahnte und es dementsprechend im neuen Geist interpretierte.

Musik ist nur im Augenblick der Hörbarmachung existent. Mit dem Verklingen des letzten Tones ist das Ereignis "Musik" von der Welt verschwunden. Lediglich in den Herzen, den Seelen, dem Gedächtnis der Anwesenden, Musiker oder Publikum, bleibt dieses musikalische Erlebnis in lebendiger Form gespeichert.

Wurde einmal "neue Musik" zum Klingen gebracht, dann ist für die anwesenden Menschen in Zukunft das gleiche musikalische Erlebnis keine wirklich "neue Musik" mehr. Die bewusst gemachten Neuerungen werden beim nächsten Mal bereits als bekannte, "alte Musik" empfunden. Man erinnert sich! Für Kleinkinder, die jede Musik zum ersten Mal hören, ist also jede Musik erstmals "neue Musik". Ebenso verhält es sich mit Menschen aus fremden Gegenden, die manche Musik wirklich zum ersten Mal hören.

Ein Stück, das gestern komponiert wurde, jedoch keine neuen Ideen, Gefühle oder musikalisches Material in sich birgt, ist "alte Musik". Ein Stück, das brandneu ist, Neues in sich birgt, was aber von den ausführenden Musikern nicht erkannt und musikalisch nachvollzogen wird, trifft auf die Zuhörer als "alte Musik". Ein Stück, das 300 Jahre alt ist, noch nie gehört wurde, von Musikern mit offenen Seelen und Herzen und mit allen in der Gegenwart verfügbaren Ausdruckswerten in phantasievoller Weise musiziert wird, ist "neue Musik". "Neue Musik" kann also nur durch entsprechende Interpretation entstehen.

Die Fragen stellte Dr. Ilja Stephan

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