Nachgefragt: Geir Lysne spricht über "Windows to Stravinsky"
Geir Lysne nähert sich mit "Windows to Stravinsky" dem Komponisten auf seine eigene Weise an. Im Interview erzählt der Chefdirigent der NDR Bigband, was Strawinsky und Jazz verbindet.
Herr Lysne, welchen persönlichen Zugang haben Sie zu Igor Strawinsky? Wie haben Sie seine Musik kennengelernt? Was fasziniert Sie daran?
Geir Lysne: Ich erinnere mich an eines der ersten Orchesterkonzerte, die ich in jungen Jahren erlebte. Dort spielten sie "Le Sacre du Printemps". Ich war vollkommen überrascht und begeistert von der Kraft in dieser Musik. Merkwürdigerweise fand ich darin mehr Parallelen zu der Punk-Musik, die ich damals hörte, als zu anderer Musik, die mir meine Lehrer vorstellten, wie Mozart oder Swing. Und die wunderbare, eher ungewöhnliche Art und Weise, wie Strawinsky hier mit Klängen umging, erinnerte mich an experimentierende, psychedelische Rockbands der späten 1960er-Jahre.
All das ließ mich sofort eine starke Verbindung zu Strawinskys Musik fühlen - stärker, als ich es erwartet hätte, als ich in diesem jungendlichen Alter, wo alles großen Einfluss auf dein Leben hat, zu diesem Konzert ging. Als ich dann einige Jahre später Strawinskys Partituren studierte, begann ich zu verstehen, warum ich damals so angefixt war. Wie er Rhythmen, harmonische Konzepte, Instrumentation, Form einsetzt, ist frisch, groovy, komplex, schön, merkwürdig, nett, erschreckend und entspannend zur gleichen Zeit. Aber niemals langweilig. Niemals!
Hatte Strawinsky somit also auch einen gewissen Einfluss auf Ihren musikalischen Werdegang und Ihr Denken über Musik?
Lysne: Ja, unbedingt. Insbesondere, wie er konventionelle Grenzen ausweitet und mit Erwartungen sowohl der Musiker als auch des Publikums experimentiert. Und die Tatsache, dass Strawinsky neugierig war, dass er Impulse und Inspiration aus anderen musikalischen Richtungen gewann und diese Einflüsse dann miteinander vermischte, sie transformierte und in seine eigene musikalische Sprache einband. Dieser Ansatz hat mich in meinem eigenen musikalischen Weg sehr inspiriert und geprägt.
Zu den vielen Musikstilen, die Strawinsky beeinflussten, gehörte zweifellos auch der Jazz. Was bedeutete Jazz für Strawinsky? Und wo genau können wir diesen Einfluss hören?
Lysne: Ich bin kein Musikwissenschaftler, daher wird es andere Menschen geben, die darüber mehr wissen als ich. Aber wenn Strawinsky Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris und New York lebte, dann war er selbstverständlich mitten drin im Geschehen einer sich neu erfindenden Jazzmusik. Und das blieb nicht ohne Einfluss auf viele Komponisten. Ich kann mir vorstellen, dass es damals überhaupt nur schwer möglich war, den Kontakt mit Jazzmusik zu vermeiden. Sie zu erkunden war eine ganz natürliche Sache für aufgeschlossene Komponisten wie Strawinsky.
Wir alle wissen, wie er diese Inspiration in seinen Ragtimes, seinem "Ebony Concerto" und in der "Geschichte vom Soldaten" verarbeitete. Auch seine Beziehungen zu Jazzmusikern wie Woody Herman oder seine Bewunderung für den legendären Bebop-Altsaxofonisten Charlie Parker sind bekannt.
Beeinflusste Strawinsky umgekehrt auch den Jazz?
Lysne: Auf jeden Fall. "Sacre" dürfte wohl das Lieblingsstück vieler Jazzmusiker sein. Denn hier findet man dasselbe Konzept des "Voicings", wie man es zum Beispiel auch aus Gil Evans’ Partituren kennt, die gleichen Grooves wie in der Jazz-Rock-Fusion der 1970er-Jahre und einige der meistbenutzten Skalen des Modern Jazz, etwa symmetrische achttönige oder ganztönige Skalen, modale Skalen, den Einsatz von vierstimmigen Harmonien und Alterationen.
Außerdem ist Strawinskys Umgang mit Polychorden - mit zwei Akkorden zur gleichen Zeit - sehr inspirierend im improvisatorischen Kontext.
Ihren Beitrag mit der NDR Bigband zum Strawinsky-Festival des NDR haben Sie "Windows to Strawinsky" genannt. Was meint dieser Titel?
Lysne: Als ich jung war, hörte ich einmal Beethovens Fünfte Sinfonie in einer Disco-Version, wirklich albern und schrecklich. Und leider habe ich später sogar noch schlimmere "Experimente" kennengelernt. Für mich kam es daher nie in Frage, Jazzarrangements von ikonischen klassischen Werken zu machen. Dem fantastischen "Feuervogel" etwa einen Walking Bass, ein Swing-Becken oder einen Rock-Groove überzustülpen, ist nichts anderes als respektlos und dumm. Wie Ketchup auf einem Gourmet-Fischgericht.
Als ich gefragt wurde, Musik für das Strawinsky-Festival des NDR beizusteuern, entschied ich mich deshalb dafür, Strawinskys Ansatz zu folgen: andere Musik aus meiner persönlichen Perspektive zu betrachten, davon inspiriert zu werden und auf dieser Grundlage meine eigene Musik zu erschaffen. Sie werden manches wiedererkennen, manches wiederum nicht, weil es versteckt ist. So wie Strawinskys Blues-Akkorde als Teil seiner Polychorde.
Können Sie den Prozess des Komponierens und Arrangierens in diesem Fall konkret beschreiben?
Lysne: Zuallererst verwendete ich viel Zeit darauf, Partituren zu lesen und ganz viel Strawinsky-Repertoire zu hören. Dabei machte ich mir ständig Notizen über solche Elemente, die ich in diesem Zusammenhang interessant fand. Das konnte ein Teil einer Melodie, ein Akkord, ein Rhythmus, eine Geste oder was auch immer sein. Manchmal war es auch nur ein einziger Takt eines Instruments auf einer großen, komplexen Partiturseite. Im nächsten Schritt warf ich dann all diese Elemente unter Verwendung eines Computerprogramms in meinen kompositorischen "Mixer" und setzte aus dem daraus gewonnenen Material eine Art Puzzle zusammen. In gewisser Weise stellte ich mir den umgekehrten Weg von Strawinskys Prozess der Aneignung von Jazzmusik vor.
Übrigens durfte dabei ein kleines "Fenster" auch zu jener Geschichte nicht fehlen, nach der Strawinsky einmal Charlie Parker in einem Jazzclub ganz genau beobachtete - oder richtiger gesagt: Wie Strawinsky einmal darüber nachgedacht haben mag, wie Parkers Bebop-Saxofon in seiner eigenen Instrumentation klingen könnte.
Die Fragen stellte Julius Heile.