"Ich finde meine Stimme in der Vielfalt"
Der Percussionist der NDR Bigband, Marcio Doctor, spielt auf Trommeln, Rasseln, Gongs - oder auch mal auf Salatschüsseln. Die Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten inspiriert ihn.
Als Percussionist der NDR Bigband sind Sie für den Rhythmus zuständig. Fast immer gibt es aber zusätzlich auch einen Schlagzeuger. Welche musikalischen Aufgaben teilen Sie sich und wo gibt es Unterschiede?
Marcio Doctor: Wir haben natürlich eine sehr ähnliche Funktion, aber gleichzeitig ergänzen wir uns gegenseitig. Zu einem Schlagzeug-Set gehört ein ganz bestimmtes Instrumentarium, das auch stilistisch und durch die Big Band-Tradition vorgegeben ist. Meine Aufgabe ist es, mit den Percussion-Instrumenten rhythmisch zu unterstützen und andere Klangfarben zu ergänzen. Zusammen bilden wir sozusagen ein großes gemeinsames Rhythmusinstrument.
Das Besondere an der NDR Bigband ist ja, dass es keinen festen Schlagzeuger gibt. Fast jede Woche wird das Schlagzeug von jemand anderem gespielt! Und jeder bringt natürlich seine eigene Persönlichkeit, seinen eigenen musikalischen Stempel mit. Das ist eigentlich mit das Schönste an meinem Job: Ich habe die Möglichkeit, mit ganz unterschiedlichen Leuten zu spielen - die alle wahnsinnig gut sind und Erfahrung aus den unterschiedlichsten Bereichen einbringen.
Das bedeutet aber auch, dass Sie sich sehr schnell immer wieder auf andere Musiker einstellen müssen, oder? Gerade, wenn man so eng zusammenarbeitet, wie an Schlagzeug und Percussions.
Doctor: Das stimmt und ich empfinde das als sehr reizvoll. Das Schlagzeug ist ja so etwas wie der Motor der Band, an dem ich besonders nah dran bin. Ich finde es toll - und ich glaube, das geht der ganzen Band so - dass wir fast jede Woche einen anderen, neuen Motor für unsere Musik haben.
Für die Schlagzeuger wiederum ist es wichtig, dass sie über mich und die anderen Musiker der Rhythmusgruppe ein sicheres Bindeglied zu den Bläsern haben. Denn nicht alle, die zu uns kommen, haben viel Erfahrung darin, in einem so großen Ensemble wie einer Big Band zu spielen.
Interessant ist ja auch, dass es für Percussion in der Regel keine so genauen Notationen für die Stücke gibt, wie es bei den anderen Instrumenten der Fall ist. Wie viel ist vorgegeben, wie viel entscheiden Sie selbst?
Doctor: Es kommt darauf an. Das Mindeste, was ich bekomme, ist eine 1:1-Kopie der Schlagzeug-Noten. Damit kann ich jedes Stück zumindest schon "navigieren". Auf dieser Basis mache ich meine eigenen Arrangements für die Percussions. Weiteres entsteht dann im Dialog mit dem Schlagzeuger oder den Komponisten und Arrangeuren.
Manchmal gibt es auch schon Aufnahmen der Stücke in kleineren Besetzungen. Auch das hilft mir, eine Vorstellung zu entwickeln, welche Percussion-Farben dazu passen würden. Sehr oft wird mir sehr viel Freiheit gegeben und damit auch Vertrauen in meine Erfahrung entgegengebracht.
Das Instrumentarium, das Ihnen dabei zur Verfügung steht, ist doch theoretisch unbegrenzt groß, oder?
Doctor: Das stimmt! Ein Percussion-Set ist eigentlich wie ein eigenes Ensemble, eine Zusammenstellung von verschiedenen Trommeln, Rasseln, Becken und Gongs aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen und aus verschiedenen Materialien wie Holz, Fell, Glas oder Metall. Wir Percussionisten lieben es, auf Sachen zu spielen, die man nicht in einem Instrumentenladen kaufen kann. Eine Salatschüssel zum Beispiel, wenn sie gut klingt! (lacht)
In bestimmten Musik-Traditionen ist es ja so, dass Percussionisten sich auf ein einziges Instrument fokussieren und danach streben, dieses bis zur Perfektion zu beherrschen. Mir war schon immer die Frage wichtig: Wie schaffe ich es, Respekt vor den einzelnen musikalischen Traditionen zu zeigen, deren verschiedene Spielweisen zu lernen und trotzdem etwas Eigenes zu entwickeln? Ich habe dann schon früh gemerkt, dass es gerade die Mischung aus der Vielfalt der Instrumente und Spieltechniken ist, mit der ich meine eigene Stimme finde.
Neben der Musik beschäftigen Sie sich auch viel mit anderen Kunstgenres. Als Komponist haben Sie an Filmen, Theaterstücken oder Radio-Features mitgewirkt. Und wer der NDR Bigband auf Facebook folgt, sieht auch immer wieder Foto-Posts, die von Ihnen stammen.
Doctor: Ich interessiere mich sehr für Fotografie und insbesondere für Foto-Journalismus. Wenn man gute Porträt-Fotos machen will, muss man an den Motiven nah dran sein. Und näher an der NDR Bigband und den Gästen als wir Musiker selbst ist natürlich niemand! (lacht)
Wir machen ja nicht nur gemeinsam Musik: Wir unterhalten uns, gehen auf Tour, lachen miteinander. Als Bandmitglied bin ich natürlich mittendrin, aber als Fotograf eben gleichzeitig auch Beobachter. Das ist eine schöne Herausforderung, und ich mache es sehr gerne.
Das Interview führte Jessica Schlage (2019).