Zeitreise: Wie Schüler intensiv in die NS-Zeit eintauchen
Ein Schulprojekt in Ahrensburg beschäftigt sich mit der Geschichte einer Familie und jüdischen Schülern im Nationalsozialismus. Durch Recherche in Originaldokumenten wird die Geschichte sehr erlebbar. Es entsteht ein Film.
Der Geschichtslehrer Alexander Muschik bietet seinen Schülerinnen und Schülern in Kooperation mit dem Ahrensburger Stadtarchiv ein ganz besonderes Projekt an. Im sogenannten Europakurs haben sie als erste Klasse in Schleswig-Holstein die Chance, im Stadtarchiv Einblicke in Original-Dokumente zu bekommen. Es sind Akten, die die NSDAP Kreisleitung des Kreises Stormarn für die Altonaer Staatsanwaltschaft zum sogenannten "Fall Dr. Rath" zusammengestellt hat
Schüler beschäftigen sich mit Schicksal einer Familie
Es geht um Gesprächsprotokolle, Bescheinigungen und Berichte. Hintergrund: Ein Ahrensburger hatte den Arzt denunziert, weil der sich bei einem Hausbesuch regimekritisch geäußert hatte. Er hatte sich über die schlechte Behandlung von Jüdinnen und Juden beschwert. Raths Frau ist Jüdin. Die gemeinsame Tochter ist bis 1935 Schülerin der Stormarnschule. Danach muss sie als sogenannte Halbjüdin die Schule verlassen. Dr. Otto Rath betreibt zu diesem Zeitpunkt eine Praxis, die direkt neben der Schule liegt. Der Druck auf Familie Rath wächst. Patientinnen und Patienten bleiben der Praxis zunehmend fern. Eine Anklage droht. Die jüdische Ehefrau Viktoria erträgt die Situation im Sommer 1938 nicht mehr und nimmt sich das Leben. Dr. Rath stirbt nur zwei Jahre später. Die Kinder überleben die Nazizeit.
Originale Dokumente ermöglichen intensiven Zugang
Anhand der Dokumente tauchen die Schülerinnen und Schüler besonders tief in die Vergangenheit ein und erfahren auf diese Weise etwas über die allgemeine Lage der Ahrensburger Jüdinnen und Juden in der Nazizeit. Aus den Gesprächsprotokollen schreiben sie ein Drehbuch und drehen einen Film, in dem sie den Hausbesuch nachspielen. Dabei übernehmen sie die Sprache der damaligen Zeit. Das empfinden einige als "gruselig". Sie müssen sich überwinden, so zu sprechen. Ihnen ist wichtig zu betonen, dass sie in dem Film zu Beginn kenntlich machen, dass sie hier nicht ihre eigene Meinung wiedergeben.
Wie ist es jüdischen Schülerinnen und Schülern ergangen?
Neben der intensiven Beschäftigung mit dem "Fall Dr. Rath" machen sich die Schülerinnen und Schüler auf die Suche nach Informationen zu allen weiteren jüdischen Schülerinnen und Schüler der Stormarnschule. Weil es zu denen aber im Stadtarchiv keine Dokumente gibt, recherchieren sie im Internet und finden einiges heraus: Viele konnten vor den Nazis ins Ausland fliehen und somit der rassistischen Verfolgung entkommen, berichten sie. Einige seien aber auch deportiert und ermordet worden.
Geschichte wird durch Projekt viel greifbarer
Die Zeitreise zeigt, wie die Jugendlichen gearbeitet haben und was das tiefe Eintauchen in die Vergangenheit mit ihnen gemacht hat: Es hat sie berührt und erschüttert, erzählen sie. Alle Schülerinnen und Schüler sind sich einig: Geschichte wurde für sie so viel greifbarer.
Am Ende ihrer Recherche steht eine kleine Ausstellung. Ziel dieses besonderen Schulprojektes ist, dass weitere Schulen ebenso intensiv die jüdische Schul- und Stadtgeschichte aufarbeiten, sodass irgendwann aus den Ergebnissen eine große Wanderausstellung entstehen kann. Seit drei Jahren ist die Ahrensburger Stormarnschule die erste und bisher einzige "International School for Holocaust Studies in Yad Vashem" (Israel) in Schleswig-Holstein.