Zeitreise: Stolpersteine für vier Überlebende aus Lübeck
Künstler Gunter Demnig erinnert mit seinem Projekt an Opfer des Nationalsozialismus. In Lübeck sind gerade vier Stolpersteine verlegt worden - für vier Menschen, die den Holocaust überlebt haben.
243 Stolpersteine sind es seit dieser Woche, die in Lübeck an Opfer der NS-Zeit erinnern. Die neuesten vier sind gerade erst in den Bordstein vor der Mühlenstraße 81 eingelassen: kleine Gedenktafeln aus Messing, der Mörtel ist noch frisch. Ab jetzt erinnern sie an Werner Schenk, seine Eltern Alfred und Rosa und an Rosa Litwack.
Letzte selbstgewählte Wohnung in Lübeck
Wie so viele alte Häuser der Stadt verrät auch das des Fleischers Ernst Kasch nichts über die Menschen, die hier einmal lebten. Dabei gäbe es einiges zu erzählen: dass der Sohn des Fleischers bis heute hier lebt, zum Beispiel. Und dass 1938 im dritten Stock die Familie Schenk einzog. Das war ihr letzter selbstgewählter Wohnort in Lübeck zu einer Zeit, in der sie große Schwierigkeiten hatten, noch eine reguläre Wohnung zu finden.
Beruf in Maschinenfabrik wichtig für das Überleben
Die Ehe von Rosa und Alfred Schenk gilt zur NS-Zeit als eine sogenannte privilegierte Mischehe. Eine Jüdin und ein Arier, die zwar immer wieder schikaniert, für damalige Verhältnisse aber lange weitgehend in Ruhe gelassen werden. Ein Grund: Alfred Schenk ist ein hochqualifizierter Formen- und Werkzeugbauer, arbeitet für die Berlin-Lübecker Maschinenfabriken, die damals Waffen entwickeln. Dass er sich dort unverzichtbar macht, spielt für das Überleben der Familie Schenk eine wichtige Rolle. Eine von vielen wichtigen Rollen, an die sein Sohn Werner sich bis heute erinnert.
Verwüstung der Lübecker Synagoge miterlebt
Seine Eltern versuchen in der Öffentlichkeit nicht aufzufallen. 1937 lassen sie Werner evangelisch taufen, mit fünf Jahren. Was der Hass der Nazis gegen Juden mit ihm und seiner Familie zu tun hat, wird ihm erst ein Jahr später so langsam bewusst. Die Reichspogromnacht ist eine einschneidende Erinnerung. Die Verwüstung der Lübecker Synagoge findet nur ein paar Ecken von seinem Zuhause entfernt statt, er sieht sie mit eigenen Augen. Gewalt und Zerstörung, zersplittertes Glas vor jüdischen Geschäften, auch solchen, die längst nicht mehr jüdisch waren. Auch das frühere Bekleidungsgeschäft seines Onkels wird zerstört.
"Du wirst nicht lange genug leben"
"Als die Nazis kamen, machten sie mich zum Juden", so schildert es Werner Schenk. Was Jude im NS-Staat bedeutet? Spüren lässt ihn das vor allem Wilhelm Düwel, Leiter des Lübecker Kirchen- und Judendezernats der Gestapo. Dass Werner am Gymnasium angemeldet werden könnte, schließt er kategorisch aus. "Du kommst nicht zur Schule. Du wirst nicht lange genug leben für so eine Ausbildung" - an diese Aussage erinnert sich Werner Schenk noch gut.
Und doch soll Werner Schenk noch eine Chance bekommen - an der alten Stadt-Mittelschule am Domhof. Herrmann Effland, Lehrer und Parteimitglied, bringt ihn dort unter. Unter falschem Namen: aus Werner Schenk wird Hans Müller, gedeckt und immer wieder rechtzeitig vor Gefahren gewarnt von Lehrer Effland, einer seiner "Mini-Schindlers".
Vermieter deckt Familie
Zu denen zählt er auch den Vermieter Ernst Kasch, der die Familie jederzeit hätte rauswerfen können, sie stattdessen aber ebenfalls deckte, wenn jemand nach Juden im Haus fragte. Sein Beruf sei dabei von Vorteil gewesen, erzählt sein Sohn Karl-Ernst Kasch, der sich die Verlegung der Stolpersteine ebenfalls nicht entgehen lässt: "Bei uns sind die nicht reingekommen. Die wussten ja: Schlachterei." Wenn sein alter Herr da am Block gestanden habe, das Beil in der einen, ein Messer in der anderen Hand, dann hätten die "braunen Hemden" nur durchs Schaufenster geguckt, um dann wieder abzuhauen. Dass die Schenks deshalb so lange in Ruhe bei ihnen leben konnten, davon ist er überzeugt.
Onkel und Tanten sterben bei Luftangriff
1942 aber ist es mit der Ruhe vorbei. Palmarum, der britische Flächen-Luftangriff auf Lübeck an Palmsonntag, tötet Werner Schenks Onkel und zwei Tanten. Ein Volltreffer auf einen Luftschutzkeller. Auch der Dom wird getroffen. Aus dem Fenster der Wohnung sieht Werner einen der brennenden Türme einstürzen: "Es konnte uns nicht treffen, aber es traf die Gebäude gegenüber und wir konnten die Hitze spüren. Das war nur anderthalb Blocks weg von diesem immensen Feuer."
Auch der weitere Teil der Familie, der in Berlin lebt, hat längst keine Ruhe mehr. 1942 erreicht die Großeltern ein Deportationsbescheid. Drei Tage nach einem letzten Besuch der Schenks bei ihnen werden sie nach Theresienstadt gebracht, wo der Großvater wenige Wochen später stirbt. Rosa Litwack, eine Berliner Cousine von Rosa Schenk, taucht unter. Ende 1942 sucht sie Zuflucht in der Mühlenstraße 81. Im März 1943 fliegt das Versteck auf.
In Handschellen abgeführt
Werner Schenk erinnert sich an die schwarze Limousine der Gestapo vor der Tür. An Wilhelm Düwel. An Rosa Litwack, die in Handschellen abgeführt wird. An den Moment, in dem er erfährt, dass auch sein Vater verhaftet wurde und er zu spät kam, um ihn zu warnen. Und an das große Glück, im entscheidenden Moment Hilfe zu bekommen. In Alfred Schenks Fall ist es sein Chef, der dafür sorgt, dass sein Mitarbeiter nach einer Woche im KZ Sachsenhausen wieder entlassen wird.
Zwangsarbeit gegen Leben
Zwangsweise muss er nun unbezahlte Überstunden leisten und auch Rosa Schenk wird zu schwerer Arbeit zwangsverpflichtet, aber sie können bleiben. Die Lebensversicherung für Werner und Rosa Schenk sitzt zu diesem Zeitpunkt im Zeughaus, in unmittelbarer Nähe zur Gestapo, die die Familie ständig beobachtet. Joseph Preuß, ein Jugendfreund Rosas, versorgt sie mit Insider-Informationen. Als Rosa Schenk Ende 1944 psychisch und körperlich schwer krank wird, bringt er Werner am sichersten Ort unter, der ihm einfällt: bei den Ordensschwestern im Marienkrankenhaus. In einem Seitenraum ihrer Kapelle kann er sich bis zum Kriegsende verstecken, denn auch die Nonnen werden von den Nazis in Ruhe gelassen und können so etliche Menschen retten. Die Familie Schenk und auch Rosa Litwack, die nach Auschwitz gebracht wurde, überleben.
Mit Stolpersteinen Geschichte erzählen
Überlebt. Ein Wort, das man auf nicht allzu vielen Stolpersteinen findet. Und dass Überlebende sich dann auch noch selbst melden, um ihre Geschichte zu erzählen: für Gerhard Eikenbusch von der Initiative für Stolpersteine Lübeck ein ganz besonderer Fall und "eine Familiengeschichte, die man so sehr selten hat". Dass Stolpersteine diese auf wenige Stichworte reduzieren, findet er nicht problematisch. Doch mit dem Missverständnis, dass Menschen, für die man sie verlegt, gestorben sein müssen, möchte er aufräumen, auch wenn es zu Beginn so war. "Wir haben schon vor Jahren gemerkt, dass das ungerecht ist, weil viele Menschen Dinge erlebt haben, die genauso schlimm waren, aber durch Zufall überlebt haben oder durch großes Glück überlebt haben." Daran zu erinnern sei ihnen wichtig.
Eine bleibende Erinnerung schaffen
Der Wunsch von Werner Schenk: eine bleibende Erinnerung an diejenigen, die unter der Nationalsozialisten-Tyrannei lebten, starben und flohen. Wie seine Familie eine solche Erinnerung bekommt, in einer Heimat, die er vor mehr als 70 Jahren verlassen hat, verfolgt der 92-Jährige per Videocall, bei einem Becher Kaffee mit seinem Sohn Kurt zu Hause in Rochester im Nordwesten des US-Bundesstaats New York.
Kurzes Aufblitzen der Vergangenheit
Eine halbe Welt entfernt erklingt seine Lieblingsmelodie aus der Lautsprecherbox: "You raise me up", während die vier neuen Stolpersteine noch einmal poliert werden. Sie funkeln in der Junisonne. Dass die Steine mit den wenigen eingravierten Informationen am Ende nicht mehr als ein "kurzes Aufblitzen" sind, ist der Lübecker Initiative bewusst. "Sie wollten nie über das ganze Schicksal informieren", erklärt Gerhard Eikenbusch. Er und seine Kollegen stellen allerdings immer ausführliche Informationen ins Netz. Was weder alte Häuser noch neue Stolpersteine vermitteln können, kann man dort also nachlesen.