Zeitreise: Prost, Volksgemeinschaft!

Stand: 15.10.2023 10:39 Uhr

Jahrelang trommelte die Nazi-Propaganda in norddeutschen Städten dafür, deutschen Wein zu trinken. Auch in Lübeck. "Wein ist Volksgetränk" hieß es, oder inoffiziell "Saufen für den Führer".

von Philip Schroeder

Das Papier in den gebundenen Zeitungsbänden im Lübecker Archiv ist vergilbt und brüchig. Kein Wunder. Tageszeitungen werden gelesen und weggeworfen. Altpapier, eigentlich, aber für das Thema von Historiker Dr. Christof Krieger noch nach 90 Jahren eine wichtige Quelle. Sein Arbeitsgebiet ist die sogenannte Wein-Propaganda der Nationalsozialisten. Heute will er in den alten Lübecker Tageszeitungen nachvollziehen, wie diese Propaganda mit dem zentralen Slogan "Wein ist Volksgetränk" in der Hansestadt umgesetzt wurde. Und welche Rolle das damals im Konzept der "Volksgemeinschaft“ spielte.

Wein für das Volk, Wohlwollen für das Regime

Eine Zeitungsseite aus dem Jahr 1935 einer Lübecker Zeitung zeigt einen Artikel über Weintransport. © Privat
Aus dem "Lübecker Generalanzeiger" 1935: Lübecks "Patenwein" kommt an, die Presse meldete jedes Detail der Weinpropaganda.

Die "Wein ist Volksgetränk“-Aktionen fallen in die Jahre ab 1934. Die Nationalsozialisten sitzen fest im Sattel, regieren mit absoluter Macht, das Parlament ist längst entmachtet. Der Krieg ist noch fern, der Holocaust maximal eine Ahnung… Wein-Propaganda der Nazis – das klingt nach einem skurrilen Forschungsgebiet. Auf den ersten Blick schon, sagt Dr. Krieger: "Aber die Kernfrage aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist ja, wie ein solches Regime es geschafft hat, ein halbwegs kultiviertes Volk für die verbrecherischen Ziele zu instrumentalisieren. Einer der Forschungsansätze ist eben, dass es die Nationalsozialisten geschafft haben, alle gesellschaftlichen Bereiche zu durchdringen und ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen.“ Die Kampagne "Wein ist Volksgetränk“ sei ein kleiner, aber typischer Baustein zu diesem Gefühl der "Volksgemeinschaft", sagt der Historiker, der im Weinbau-Ort Traben-Trarbach an der Mosel das Mittelmosel-Museum leitet.

Keine Aktion der Städte, sondern der Partei

Eine Zeitungsseite aus dem Jahr 1935 einer Lübecker Zeitung mit Anzeigen von Winzerfesten. © Privat
Die Weinwochen wurden in Lübecks Gastronomie mit Winzerfesten gefeiert.

Wein, bis dahin außerhalb der Weinanbaugebiete in Südwestdeutschland und auch in Städten wie Lübeck eher Getränk des Bürgertums und der ersten Kreise, wurde von den Nazis als Jedermann-Nahrungsmittel beworben, mit dem jährlichen "Fest der Deutschen Traube und des Weines“, mit Weinwoche und Winzerfesten und vor allem mit den "Wein-Patenschaften“. Städte außerhalb der Wein-Regionen gingen zwischen 1934 und 1937 Partnerschaften mit festgelegten Weinbau-Orten ein, Lübeck zum Beispiel mit Traben-Trarbach an der Mittelmosel und Walporzheim an der Ahr. Die Städte nahmen den in den Patenregionen produzierten Wein in Fässern ab und brachten ihn über den lokalen Weinhandel und die Gastroniomie abgefüllt auf den Mark, zu festgesetzten, relativ günstigen Preisen zwischen 90 Pfennig und 1,40 Reichsmark pro Flasche. Unter großem Propaganda-Getrommel in der gleichgeschalteten Presse. "Das war übrigens keine Aktion der Stadtverwaltungen oder der Wirtschaftsverbände, sondern das war eine Aktion der NSDAP und ihrer Gliederungen auf Gauleiter- und Ortsgruppenleiter-Ebene“, sagt Dr. Christof Krieger.

Propaganda war nur Kulisse

Die "Wein ist Volksgetränk“-Kampagne war auch keine rein ideologisch getriebene Aktion, obwohl die Nazi-Propagandisten sich viel Mühe gaben, den Winzer zum edelsten Vertreter des Bauerntums hochzuschreiben, der im steten Kampf mit dem Wetter dem Boden den Wein abrang, und das auch noch unter ständiger Bedrohung durch die benachbarte undeutsche Weinkultur. "Aber kurioserweise hatten die Nazis mit dem Wein eigentlich nichts am Hut. Der war ja eine römische Kulturleistung. Das passte nicht zu den Germanen. Die Wein-ist-Volksgetränk-Aktionen und die Weinpatenschaften waren eine rein ökonomisch getriebene Aktion“, sagt Experte Dr. Krieger.

Es gab schlicht zu viel Wein

Eine Zeitungsseite aus dem Jahr 1935 einer Lübecker Zeitung zeigt einen Artikel über Weinfeste. © Privat
Der "Lübecker Generalanzeiger" begann mit seiner Weinpropaganda schon, wenn der Patenwein in Lübecks Patenorten an Mosel und Ahr abgeschickt wurde.

Auslöser waren vor allem die Rekordernten 1934 und 1935, so dass nach der guten Ernte 1933 die Keller schlicht übervoll waren. Dafür seien die Wein-Patenschaften eine gute Idee gewesen. "Man schenkt nicht nur deutschen Wein aus, sondern ausschließlich Wein aus dem Paten-Dorf wie Traben-Trarbach. Die allgemeine Solidarität mit den angeblich notleidenden Winzern bekommt ein Gesicht, man lernt die Winzer und Delegationen wirklich kennen – und an der Menge des konsumierten Weines lässt sich die Solidarität sogar messen“, erklärt Dr. Krieger. Der Volksmund nannte die Kampagne schnell "Saufen für den Führer“.

Konkurrenz mit dem Rotspon

In den alten Ausgaben des "Lübecker Generalanzeigers“ ist zu erkennen, welcher Propaganda-Aufwand getrieben wurde. Von der feierlichen Verschickung der Weinfässer in Lübecks Patenwein-Regionen Traben-Trarbach an der Mosel und Walportzheim an der Ahr über die von Honoratioren begleitete Ankunft in Lübeck bis hin zum Ausschank der Weine auf den Winzerfesten und Winzerabenden in Lübecker Gaststätten, alles wird bejubelt. Ungefähr einen halben Liter "Patenwein“ pro Kopf konsumierten die Lübecker während der Aktionswoche eines Jahres, 70 000 Liter. Verglichen mit anderen Städten ein Wert eher im Mittelfeld. Und es finden zwar Winzerfeste und die offiziellen Weinwochen statt, aber kein Festumzug mit Volkstum aus den Patenregionen. "Hier in Lübeck habe ich so ein bisschen den Verdacht, dass der alteingesessene Import-Weinhandel mit seinem französischen Rotwein kein wirkliches Interesse daran hatte, dass die Nationalsozialisten seine Kunden mit deutschem Wein beglücken“, sagt Weinforscher Dr. Krieger: "Wenn man gewollt hätte, hätte man da noch mehr organisieren können“. Und so richtig billig sei der Patenwein auch nicht gewesen. Eine Reichsmark pro Flasche, zu Zeiten, als ein Arbeiter um die 60 Pfennig pro Stunde verdiente.

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 15.10.2023 | 19:30 Uhr

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