Zeitreise: Auf den Spuren des jüdischen Friedrichstadt

Stand: 07.10.2023 11:21 Uhr

In Friedrichstadt war das Judentum zeitweise die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft. Eine jüdische Gemeinde hat sich jedoch seit der Schoa nie wieder in Friedrichstadt gebildet. Eine jüdische Stadtführung begibt sich seit diesem Jahr regelmäßig auf Spurensuche.

von Jonas Salto

Als Herzog Friedrich III. 1621 Friedrichstadt gründet, gewährt er Religionsfreiheit. So haben sich Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa dort angesiedelt und die Handelsmetropole aufgebaut. Mit dieser Geschichte startet Adriana Stern jede ihrer jüdischen Stadtführungen. Im Frühjahr war Premiere. Seitdem führt sie einmal im Monat kleine Gruppen durch die Gassen der Stadt, entlang von Stolpersteinen und zur ehemaligen Synagoge. Adriana Stern gehört der jüdischen Gemeinde in Kiel an. Sie muss immer einen weiten Weg zum Gottesdienst auf sich nehmen. Denn nach dem Holocaust, oder wie sie sagt, nach der "Schoa" (übersetzt "Katastrophe"), ist keine neue jüdische Gemeinde mehr in Friedrichstadt entstanden.

Ehemalige Synagoge heute Ort für kulturelle Veranstaltungen

Die ehemalige Synagoge stammt aus der Hoch-Zeit der jüdischen Gemeinde. 1847 wurde sie erbaut. Damals leben mehr als 400 Jüdinnen und Juden in Friedrichstadt. "Es gab hier sogar eine jüdische Schule. Und zwar nicht eine Religionsschule, die nur religiöse Inhalte vermittelt, sondern eine allgemeinbildende Schule von den 1830er- bis 1880er-Jahren", erzählt Bettina Goldberg in der ehemaligen Synagoge. Adriana Stern hat die Historikerin während ihrer Recherchen zur Stadtführung kennengelernt. 1938, nicht einmal 100 Jahre nach dem Bau der Synagoge, entweihen die Nazis das Gotteshaus. Ein SS-Offizier zieht dort später ein und nutzt es als Wohnung. Heute sieht die ehemalige Synagoge wieder so aus wie damals, als sie gebaut wurde. Dort finden mittlerweile Kultur-Veranstaltungen statt. In dem ehemaligen Gebetsraum zeigt Bettina Goldberg Aufnahmen von jüdischen Familien und deren Leben, kurz bevor die Nazis kamen.

Rettung per Kindertransport

Adriana Stern erzählt auf ihren Rundgängen am liebsten nur von den Familien, die nicht komplett ausgelöscht wurden. Und so macht sie Halt bei den Stolpersteinen für die vierköpfige Familie Meier. Während der Novemberpogrome 1938 stürmen die Faschisten auch in das Haus der Meiers am Markt 6. Die kleine Tochter Rita rennt ganz nach oben und beobachtet, wie die Nazis alles verwüsten. Dabei erkennt sie einen der Faschisten. Es ist ihr Lehrer, Herr Kraft. Ritas Eltern fahren nach den Pogromen mit Rita nach Hamburg. Ihr Bruder Rolf ist bereits dort und macht eine Ausbildung. In Hamburg setzen sie Rita in einen Zug in die Niederlande. Die sogenannten Kindertransporte sind damals von Juden für Juden organisiert worden. Dazu sagt Bettina Goldberg: "Es waren Transporte für unbegleitete Kinder bis einschließlich 17. Und es gab immer mehr Nachfrage als Plätze." Rolf ist damals schon zu alt für den Kindertransport. Die Nazis deportieren ihn und seine Eltern schließlich nach Minsk und ermorden sie dort. Rita, im Exil in den Niederlanden, geht fest davon aus, ihre Familie bald wiederzusehen.

Rita Meier flieht später aus den Niederlanden weiter nach England und wandert von dort später nach Israel aus. In Friedrichstadt ist sie noch ein einziges Mal gewesen, um ihren Kindern zu zeigen, wo sie herkommt. Ihre Geschichte hat sie 1999 in Israel der Historikerin Bettina Goldberg erzählt. Die Beiden treffen sich damals zufällig in Tel Aviv im Goethe-Institut, während der Präsentation eines Sammelbandes über jüdisches Leben in Schleswig-Holstein. Ob Rita Meier heute noch lebt, weiß Bettina Goldberg nicht.

Die wenigsten Juden in Friedrichstadt überlebten Holocaust

Eine Schwarzweiß-Aufnahme zeigt eine Hausfassade. © Stadtarchiv Friedrichstadt
Das Geschäft und Wohnhaus der Familie Heymann in Friedrichstadt: Nur Tochter Edith überlebt den Holocaust.

Kurz vor 1933 leben laut der Historikerin noch 31 Juden in Friedrichstadt. Darunter auch der Kaufmann Adolf Heymann mit seiner Frau Ricka und Tochter Edith. Der Sohn Rudolf starb unter ungeklärten Umständen 1933 in Kiel. Zwei Jahre später ist seine Schwester Edith mit ihrem Mann nach New York ausgewandert. Das hat ihr das Leben gerettet. Die Nazis haben ihre Eltern Adolf und Ricka nach Treblinka deportiert und dort ermordet. Edith hat in New York Kinder bekommen. Ihre Tochter Kerrin war ein Mal in Friedrichstadt, um zu sehen, wo ihre Mutter herkommt. Sie hat sich damals in der Tourist-Info erkundigt, wo das Haus ihrer Eltern zu finden ist, und dabei ist sie zufällig auf Adriana Stern getroffen. Die Beiden haben heute noch Kontakt und Kerrin will noch einmal nach Friedrichstadt kommen, um ihren Kindern alles zu zeigen.

Jüdische Einrichtungen heute unter Polizeischutz

Während der Stadtführung macht Adriana Stern auch Halt am ersten Haus von Friedrichstadt. Denn dort hängt eine für sie besonders wichtige Tafel mit der Aufschrift: "Haltet Stand in der Freiheit." Adriana Stern hat nach ihrer ersten jüdischen Stadtführung einen Drohbrief bekommen. Das hielt sie aber nicht davon ab, weiterzumachen: "Weil ich mich freue, dass so viele so interessiert daran sind, was hier in Friedrichstadt passiert ist", sagt sie. Der Gruppe erzählt sie vor dem ersten Haus der Stadt, dass alle jüdischen Einrichtungen in Deutschland unter Polizeischutz stehen: "Deswegen ist unsere Synagoge in Kiel immer noch nicht fertig, weil wir schusssichere Scheiben einbauen lassen mussten." Historikerin Bettina Goldberg hat ein ungutes Gefühl, wenn sie in die Zukunft blickt. "Was mir auffällt, ist eine Form von Enttabuisierung. Man spricht seine Vorurteile offen aus. Man schämt sich nicht mehr." Aus ihrer Sicht ist es nicht so, dass die Vorurteile jemals ganz weg waren. Aber man habe sie zeitweise zumindest nicht öffentlich ausgesprochen. Das ändere sich im Moment wieder.

In Friedrichstadt, der "Stadt der Toleranz", lebten einst Menschen diverser Konfessionen friedlich zusammen. Heute gibt es dort noch fünf Gotteshäuser. Die Remonstranten, Lutheraner, Mennoniten, Katholiken und dänischen Lutheraner praktizieren frei ihre Religion. Eine jüdische Gemeinde hat sich jedoch seit der Schoa nie wieder in Friedrichstadt gebildet.

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Dampflokomotive aus dem 19. Jahrhundert. © dpa - report Foto: Votava

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 08.10.2023 | 19:30 Uhr

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